Erfüllung zwischen Dauerreiz und Dauerfrust

Wir Menschen sind sexuelle Wesen – und das wäre eigentlich die natürlichste und schönste Sache der Welt, wären da nicht all die masslos überzogenen Vorstellungen davon, was guter und was richtiger Sex sei, wie oft man es tun und was man dabei auch noch fühlen müsse. Sich von diesen Narrativen zu verabschieden und seine eigenen, ganz persönlichen sexuellen Bedürfnisse zu entdecken, ist nicht einfach – aber möglich und letztlich auch zutiefst erfüllend.

Markus Kellenberger

Achtung Triggerwarnung! Im nachfolgenden Text geht es um Sex, aber nicht um den Sex, den Sie sich jetzt gerade in Ihrem Kopf vorstellen. Es geht um Intimität, um Nähe, um Zuwendung, um Vertrauen, um Geben und Nehmen und um gemeinsames Vergnügen. Selbstverständlich hat bei alle dem auch vögeln, ficken und bumsen seinen Platz, auf gar keinen Fall aber das beschönigende «Liebe machen», denn Liebe lässt sich nicht machen. Sie entsteht ganz alleine durch – wie eingangs erwähnt – Intimität, Nähe, Zuwendung, Vertrauen, Geben und Nehmen und gemeinsamem Vergnügen. Kreis geschlossen. Nein, halt, noch nicht ganz, diesem Kreis muss als ganz spezielle Würze nämlich auch noch die Individualität beigefügt werden, denn jeder Mensch empfindet und dosiert die zu erfüllendem Sex gehören Zutaten auf seine ganz eigene Art und Weise. Manche mögen's heiss, andere bevorzugen es lauwarm, und manchmal möchte man von allem ein Bisschen oder überhaupt nichts davon – und das ist völlig normal.


Zerrissen zwischen Ideal und Wirklichkeit

Nun ist es in unserer Welt leider gar nicht so einfach herauszufinden, welche Art von Sex einem wirklich gefällt, und welche der unendlich vielen Spielarten wirklich dem eigenen Wesen entsprechen. Auf der einen Seite ist Sexualität überall um uns herum und prägt unsere Wahrnehmung. Ob in Werbespots für Autos, in Influencer-Postings, in der Popkultur, auf Pornoplattformen und selbst in Familienfilmen – auf der einen Seite wird uns Sex als etwas verkauft, das mit Besitz, Prestige, Eroberung, Leistung und Macht zu tun hat, auf der anderen Seite soll er uns Romantik, Glück und einen Zustand von ständigem Begehren und ewig währender Liebe und Treue bescheren. Unsere Vorstellung von Sex ist derart mit Erwartungen überfrachtet und so völlig zwischen Ideal und gelebter Wirklichkeit zerrissen, dass einem vor lauter Überforderung die Lust daran vergehen kann.

Wenn so viele Erwartungen den Blick auf das verstellen, was tatsächlich ist, wundert es nicht, dass Paartherapeutinnen und -therapeuten von einem deutlichen Anstieg der Unlust in festen Partnerschaften berichten. Gerade in langfristigen Beziehungen ist das zu beobachten, und Studien belegen das auch. Fast die Hälfte aller Paare erlebt Phasen, in denen einer oder auch beide Partner kaum noch sexuelles Verlangen empfinden. Eindrücklich gezeigt hat das die im März dieses Jahres stattgefundene Beratungsaktion der TV-Sendung «Puls» auf SRF. Dutzende Menschen haben sich dort über ihre Probleme mit der Sexualität ausgetauscht. Im Chatverlauf der Sendung schrieb zum Beispiel ein Mann über die verloren gegangene Lust in seiner Beziehung: «Früher war da Spannung, ein Blick hat gereicht. Heute ist alles leise geworden – und ich weiss nicht, wie ich das ändern soll.» Und eine Frau schrieb in Bezug auf den Frust im Bett: «Ich liebe meinen Mann, aber ich finde keine Sprache für das, was mir wirklich fehlt.»


Wenn uns die Worte fehlen

Die beiden Stimmen fassen gut zusammen, was vielen Frauen und Männer im Verlauf ihres Älterwerdens und in langen Beziehungen passiert: «es» fühlt sich irgendwie nicht mehr richtig an, aber um sagen zu können, wie «es» sich denn anfühlen sollte, fehlen den Betroffenen die Worte. «Die ältere Generation hat zwar die sexuelle Revolution erlebt und vielleicht sogar gelebt», sagt die Sexualtherapeutin Esther Elisabeth Schütz, «aber sie hat nicht gelernt, über ihre echten, persönlichen sexuellen Wünsche und Bedürfnisse zu reden.»

Mit dieser Sprachlosigkeit ist Schütz, die 1998 in Uster das Institut für Sexualpädagogik und Sexualtherapie ISP gegründet hat, seit Anbeginn ihrer Tätigkeit konfrontiert. In vielen Beziehungen sei es schon schwierig genug, über weniger herausfordernde Themen als Sex zu reden, sagt sie. Und so sei es nicht weiter erstaunlich, dass es vielen Menschen sehr schwer falle, «sich dem Partner oder der Partnerin zuzumuten, indem wir uns über unsere Gefühle und intime Wünsche austauschen.» Aus Angst, das Gegenüber zu verletzen oder sich selbst blosszustellen, kämen wir schnell an die Grenzen des gerade noch Sagbaren. Aber genau hier, meint Schütz, würde nicht nur eine vertrauensvolle Vertiefung der Beziehung geschehen, sondern auch ein besseres Verständnis für die Bedürfnisse, Ängste und Sorgen des Partners. Eine Sexualtherapie könnte hier entscheidende Impulse zur Erneuerung der gemeinsam gelebten Intimität beisteuern.


Guter Sex will geplant sein

Sprachlosigkeit ist also einer der Stolpersteine, an denen ein erfüllendes Sexualleben scheitern kann, ein anderer sind die Vorurteile gegenüber der «geplanten» Sexualität. «Wir sind doch schon genug verplant», würden Paare bei diesem Vorschlag regelmässig einwenden, sagt Esther Elisabeth Schütz. «Aber es geht hier nicht darum, eine Agenda abzuspulen, sondern in der Hektik des Alltag bewusst einen Raum für gemeinsam verbrachte Zeit zu schaffen, in dem sich Intimität und gegenseitiges Begehren entwickeln kann.» Wohlverstanden: kann, nicht muss. Denn wer «ergebnisorientiert» diesen Raum betritt, vergibt sich die Chance, dass daraus auch etwas ganz anderes entstehen kann, wie zum Beispiel ein wohltuendes, zärtliches und liebevolles Zusammensein.

«In vielen Beziehungen geht es vielleicht gar nicht in erster Linie um fehlenden Sex, sondern um das verloren gegangene Gefühl der Vertrautheit und der Geborgenheit», sagt dazu die in Liestal und Basel tätige Achtsamkeitslehrerin und Lomi Bodywork Practitioner Lioba Schneemann. Ob in Einzelberatungen oder in den Massagesessions – sie erfährt immer wieder, dass sich viele Menschen einfach nur nach Körperkontakt sehnen, und bietet deshalb auch achtsames Berühren an. «Die meisten geniessen diese Möglichkeit, ohne eine bestimmte Absicht gehalten und gestreichelt zu werden, und dabei so angenommen werden, wie sie im Moment gerade sind. Sie erfahren dabei, dass sie nichts dafür tun und keine Erwartungen erfüllen müssen.» Vielen kämen dabei die Tränen, andere würden einfach ganz still und ruhig, könnten entspannen und durchatmen. «Diese Menschen, Frauen wie Männer, wollen kein psychotherapeutisches Umfeld, sondern einfach nur berührt werden», sagt Schneemann. Sich so zu spüren und angenommen zu fühlen, sei für einige von ihnen vielleicht auch ein erster Schritt, um sich zu Hause dem Partner oder der Partnerin sexuell wieder öffnen zu können.

Dieses Bedürfnis nach echter, warmer Berührung kommt bei vielen Menschen oftmals lange vor dem Wunsch nach eigentlichem Sex. «Sich selbst in seiner Bedürftigkeit erfahren, ist zentral für eine befriedigende Sexualität», sagt Marcel Ruchti, der die Tantra-Schule «Herz & Sinne» in Thun gegründet hat (siehe Interview Seite 53). In Tantra-Kursen wird deshalb grosser Wert darauf gelegt, dass die Teilnehmenden erst ihre eigenen Wünsche und Grenzen ausloten, bevor die eigentliche Paararbeit beginnt. Und die besteht nicht nur aus gegenseitigen Berührungsübungen, sondern eben auch im gegenseitigen Austausch über das, was man beim intimen Zusammensein zulassen kann – und was nicht. «Ein Paar besteht aus zwei Menschen», sagt Ruchti. «Und wo zwei Menschen sind, gibt es zwei unterschiedliche Vorstellungen von Sexualität. In unseren Kursen helfen wir diesen Menschen, einen erfüllenden Konsens zu finden.»


Geheimnisse steigern das Begehren

Es gibt viele Wege, um die zementierten Vorstellungen hinter sich lassen zu können, wie Sex und Beziehung zu sein hätten. «Eine dieser Vorstellungen, die es im Interesse einer guten Partnerschaft auch loszulassen gilt, ist zum Beispiel jene der ständigen Nähe, des Alles-miteinander-Teilens und gegenseitiger, völliger Transparenz», sagt der deutsche Paarberater und Buchautor Michael Mary. Aus seiner Sicht entsteht Intimität und Sexualität nicht durch maximale Offenheit, sondern durch das Wissen, dass das Gegenüber das Recht auf Geheimnisse hat, die respektiert, aber nicht vollständig ergründet werden müssen. Dieses Spannungsfeld zwischen Nähe und Distanz, zwischen Wissen und nicht Wissen, sei der eigentliche Raum für erotische Begegnungen, denn «Begehren richtet sich immer auf das, was sich einem entzieht», sagt er.

In diesem Zusammenhang plädiert Mary sogar für ein neues Verständnis von Untreue, was bei den meisten Paaren nicht nur ein äusserst heikles, sondern auch ein virulentes Thema ist. In seinen Büchern beschreibt er Nebenbeziehungen bewusst nicht als Brüche, sondern als Ausdruck einer Suche nach Lebendigkeit, Autonomie und Spiegelung, welche die Kernbeziehung stärken könne. Paarbeziehungen bräuchten nicht mehr Kontrolle, sondern den vertrauensvollen Dialog. Nicht das gemeinsame Bett zähle, sondern die gemeinsame Sprache für das, was in diesem Bett fehle.» Marys Rat lautet deshalb: «Nur wenn wir uns erlauben, auch verletzlich und unberechenbar zu sein, kann Intimität entstehen, die über langweilige Routine und lusttötende Erwartungen hinausgeht.»


Weg von der Pflicht – hin zur Kür

Ähnlich sieht das auch die US-amerikanische Sexualwissenschaftlern Emily Nagoski. Nicht Häufigkeit, nicht Orgasmus, nicht Performance, nicht Treue oder Untreue, sondern einzig das beidseitige Vergnügen an dem, was im Bett geschieht – oder eben auch mal nicht – ist für sie der Massstab, der für eine erfüllte und vielfältig gelebte Sexualität zählt. In ihren Ratgeberbüchern verfolgt sie deshalb einen pragmatischen Ansatz, der da lautet: «Sex ist kein Pflichtprogramm.» Im Gegenteil, er sollte etwas sein, das man mit derselben Leichtigkeit praktiziert wie gemeinsames Kochen, Tanzen oder Musizieren, und für das man auch mal einen Kurs oder eine Therapie ins Auge fasst, um gemeinsam weiter zu kommen. Zudem betont auch sie, wie wichtig es in gestandenen Beziehungen sei, Räume für Sexualität einzuplanen.

Aber: «Man kann auch in solchen Räumen die Lust nicht herbeizaubern – man muss sie wachsen lassen und entspannt akzeptieren, wenn sie erst beim nächsten oder übernächsten Mal blühen will.»

Damit das geschehen kann, müssen sich Paare von den kulturellen Sex-Imperativen, die in unseren Köpfen herumspuken, verabschieden. «Dass guter Sex wild, spontan und multiorgasmisch sein müsse, und dass ständiges Begehren, Wollen und Können ein Naturgesetz sei, «das sind Geschichten, keine Wahrheiten», sagt Nagoski. «Gute Paare schreiben ihre eigenen erotischen Geschichten, losgelöst davon, was irgendwelche Statistiken dazu sagen, oder was die Nachbarn so treiben – oder zumindest behaupten, es zu tun». Erfüllende Sexualität hat Platz für das Unperfekte, für Zärtlichkeit, für Berührung ohne Absicht, für das Staunen über den anderen und über sich selbst, und sie beinhaltet auch das Recht, nicht nach Vorgaben funktionieren zu müssen. Was Sexualität aber auf jeden Fall braucht, ist der vertrauensvolle Austausch zwischen den Liebenden. «Paare, die ihre wahrhaftigen sexuellen Bedürfnisse einzeln und gemeinsam erforschen und darüber auch reden, haben mit der Lust weniger Probleme als andere», sagt Emily Nagoski. «Aber nicht, weil sie deswegen mehr Sex hätten – sondern weil sie sich dabei näher kommen.» 


Buchempfehlungen

Emily Nagoski: «Kommt zusammen! Die Kunst (und Wissenschaft) sexuell erfüllter Beziehungen», Verlag Knaur, 2024

Michael Mary: «Fünf Lügen die Liebe betreffend – die Sexualität in Langzeitbeziehungen», nordholt Verlag, 2024

Anastasia Romanova: «Tantra Massage für Einsteiger – das grosse Buch für die erotische Massage», Verlag Eulogia, 2024

 

«Es geht darum zu lernen, sich dem hinzugeben, was passiert – und nicht dem nachzurennen, was man will, dass es passiert.»

 

Mit Tantra über Sex reden lernen

Wenn Paare ihre Sexualität neu gestalten möchten, kommen sie um eines nicht herum: darüber reden zu lernen. Marcel Ruchti, Gründer der Tantra-Schule «Herz & Sinne» in Thun, versteht die Hauptaufgabe seines Angebotes deshalb darin, einen Raum zu schaffen, in dem Gespräche über ein heikles Thema gefahrlos möglich sind.

Tantra ist jener Teil der indischen Yoga-Philosophie, der sich mit der Entwicklung und Befreiung der Sinnlichkeit befasst. Ist Tantra der Schlüssel für ein neues Verständnis der Sexualität?
Marcel Ruchti: Tantra ist ein möglicher Weg zu einer neuen Paarsexualität. Was wir in unseren Kursen anbieten, ist in erster Linie eine Möglichkeit, sich den eigenen Bedürfnissen bewusst zu werden, und dafür eine Sprache zu finden. Im Zentrum steht deshalb für Teilnehmerinnen und Teilnehmer die wichtige Frage, wie will ich berührt werden, und wie will ich berühren. Das herauszufinden und einander in einer Beziehung auch mitteilen zu können, ist der Schlüssel für eine erfüllende Sexualität. Ob das nun in einem unserer Kurse oder im Rahmen einer anderen Methode geschieht, hängt von den Bedürfnissen der Paare oder Einzelpersonen ab.

Miteinander über die eigenen sexuellen Wünsche zu reden – warum fällt uns das so schwer?
Es gibt Paare, bei denen ist die Sexualität in einem nicht mehr befriedigenden Muster erstarrt oder findet überhaupt nicht mehr statt. Was fehlt, ist das gegenseitige Vertrauen, diese Situation ohne Angst und Scham anzusprechen. Wir reden in der Beziehung über den Putzplan, über die nächsten Ferien oder wie wir das Wohnzimmer gestalten möchten – aber über unsere sexuellen Bedürfnisse zu reden, haben wir nie gelernt. Wir haben aber auch nicht gelernt, unsere eigenen Wünsche wahrzunehmen. Oft leben Paare in einem Zustand der sexuellen Unzufriedenheit, ohne zu wissen, was sie denn zufrieden machen würde. Mit unseren Kursen schaffen wir einen geschützten Raum, der die «Besprechbarkeit» dieser heiklen Themen möglich macht.

Wie muss ich mir einen solchen geschützten Raum vorstellen?
Sexualität ist eng mit unserer Verletzlichkeit verknüpft, denn beim intimen Zusammensein öffnen wir uns unserem Gegenüber. Beim Tantra lernen wir deshalb nicht nur, unsere Vorstellungen von Erotik in Worte zu fassen, sondern auch unsere körperlichen Grenzen zu erfahren. Das geschieht mit achtsamen Bewusstseins-, Gesprächs- und Berührungsübungen. Viele Menschen verstehen Sex als zielorientiert, der, um erfüllend zu sein, mit dem Orgasmus enden muss.

Das ist vermutlich eine der hinderlichsten Denkfallen für guten Sex. Im Tantra lernen wir, dass es auch ohne Orgasmus und fern von allen Pornobildern, die man vielleicht im Kopf hat, viele Möglichkeiten gibt, sich gegenseitig Lust und schöne, verbindende Gefühle zu bereiten. Oder mit anderen Worten: es geht darum zu lernen, sich dem hinzugeben, was passiert – und nicht dem nachzurennen, was man will, dass es passiert, denn das löst in der Regel mehr Frust als Lust aus.

Welche Menschen sprechen Sie mit Ihren Kursen an?
Tantra ist eine Methode, für Menschen jeglichen Alters und sexueller Orientierung, ihre Lust und Liebe erfüllter leben zu lernen. Und weil es dabei eben nicht um die Fixierung auf den steifen Penis und den wilden Orgasmus geht, ist Tantra auch für ältere Paare eine gute Möglichkeit, neue Formen der Sexualität kennenzulernen. In unseren Kursen geht es nicht um den Höhepunkt, sondern um die gefühlsmässige Erfüllung im Rahmen der Intimität. Wir können uns dabei also ganz entspannt neuen Empfindungen hingeben, diese in Einzel- und Partnerübungen erforschen und aus alten Mustern ausbrechen, um die Sexualität innerhalb der Beziehung mit neuen Möglichkeiten zu bereichern.

www.herzundsinne.ch


Marcel Ruchti: «Sexualität ist eng mit unserer Verletzlichkeit verknüpft.»

 

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