Ein Lob auf die Freude

Freude ist gratis. Sie braucht nur Aufmerksamkeit. Liebe und Mitgefühl sind die Schlüssel zu einem freudigen Leben. Der Blick auf das Schöne ist selbst dann möglich, wenn das Leben uns herausfordert.

Text: Lioba Schneemann, Illustration: Sonja Berger


I
st Freude erleben eine Lebenskunst? Manchmal scheint es so schwer zu sein. Denn der Alltag, auch in der «gesättigten» Schweiz, bereitet uns viele Sorgen. Seien es die endlosen To-do-Listen, die fordernden Kinder, der unfreundliche Nachbar oder der unzufriedene Partner. Seien es die Meldungen aus allen Ecken dieser verwirrten Welt. Immer findet sich etwas, das uns belastet, ärgert oder dies «könnte». Wie können wir angesichts dieser Herausforderungen freudig gestimmt sein? Ist es überhaupt erwünscht? Darf ich das sein? 

Ja, ich darf. An der Freude festzuhalten, sie zu empfinden, kann eine Kraft sein, die uns mit dem Leben versöhnt. Und uns mit anderen verbindet. Sich dessen bewusst sein, dass man lebt, gesund ist, oder es wieder sein wird. Ja, selbst wer nicht wieder ganz gesund sein wird, kann pure Lebensfreude empfinden. Lebendig zu sein, kreativer Gestalter seines Lebens sein zu können – allein das reicht schon aus, um ein Gefühl der Freude aufkommen zu lassen. «Die Samen der Freude keimen in jedem von uns», schrieben einmal Erzbischof Desmond Tutu und Seine Heiligkeit der Dalai Lama. Letzterer ist bekannt für seine Definition vom Sinn des Lebens: Der Sinn des Lebens bestehe darin, glücklich zu sein: «Der Wunsch nach Glück ist ganz tief in unserem Inneren verankert.» Des Weiteren sei der Gewinn an Erkenntnis und Mitgefühl wichtig.


Freude durch Aufmerksamkeit

Was es braucht, ist die bewusste Entscheidung dafür. Wohin richte ich meinen Fokus? Eines der bekanntesten Beispiele ist das des jüdischen Arztes Viktor Frankl, der trotz der grausamen Erlebnisse im Konzentrationslager der Nazis ein Buch mit dem Titel «… trotzdem Ja zum Leben sagen» verfasste. Wir können, wie sein Beispiel zeigt, trotz allem einen ungebrochenen Willen zum Leben, zum Ganzsein – auch wenn es eine gebrochene Ganzheit ist – spüren. Und wach, aufmerksam und fähig sein, das Gelingende, wenn nicht gar Funken von Freude in uns spüren. Wichtig war wohl, dass Frankl geträumt hat. Dass er, sollte er das KZ überleben, seine Erfahrungen und Einsichten später mit der Menschheit teilen will. Dieses Träumen, das mit einer gewissen Vorfreude einhergeht, kann retten. Träume entwickeln, Visionen darüber, wohin es gehen kann oder sollte. Was kann ich noch tun? Was ist möglich, trotz aller Grenzen?


Bestimme, wohin die Reise geht

Welche Qualität wir in unserem Leben fördern möchten und welche wir geringer gewichten können, ist unsere Entscheidung. Augenblick für Augenblick. Wir können uns jederzeit auf die Aspekte des Lebens konzentrieren, die zur Freude führen. Dass wir es wirklich auch «nötig» haben, das Freudvolle immer wieder bewusst zu kultivieren, hat mit unserem evolutionären Erbe zu tun. Wir sind geboren mit einer Tendenz zur Negativität. Darum ist es wichtig, diese Schieflage unserer Biologie durch absichtsvolles Wahrnehmen des Schönen und Gelingenden zu richten. Wir können unseren Blickwinkel also jederzeit ändern und damit unsere Sicht auf die Menschen und die Welt. Auch die Perspektive zu erweitern, immer wieder etwas mehr Distanz in das Geschehen zu bringen, indem wir innehalten und nicht gleich reagieren, kann viel Druck nehmen und unnötige Stressreaktionen verhindern. Aber auch Schwierigkeiten können uns helfen. Denn sie können uns zu Fragen führen wie: Was kann ich daraus lernen? Wie kann ich weise damit umgehen?

Akzeptanz ist eine weitere Fähigkeit, die unser Erleben von Freude stärkt. Sie gehört zu den wichtigsten Faktoren der Resilienz. Gemeint ist nicht Resignation, sondern die Annahme dessen, was ist. Nehmen wir das Leben und Situationen, die wir erleben, mit einer Haltung der Akzeptanz an, kämpfen wir nicht unnötig. Gemäss dem Gebet: «Gott, gebe mir den Mut, das zu akzeptieren, was ich nicht ändern kann. Den Mut, das zu ändern, was ich ändern kann. Und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.» Die Energie wird nicht verschwendet, sondern wir können sie dort, wo es Sinn macht, einsetzen. 

Natürlich hilft uns auch der Humor – eine weitere und besonders gut schmeckende Zutat zum Freude-Rezept! Humor ist, wenn man trotzdem lacht. Ohne Lachen keine Lebenslust – und wie wir ja wissen, nimmt ein Lächeln, ein spontanes Lachen oft dem Schrecken die Spitze. Die Schwere fällt ab. Vor allem hilft uns, der Humor über uns selbst, unsere Fehler und Macken. Lachen wir einfach mal, anstatt uns selbst diese unleidigen Vorwürfe zu machen, bringt das Erleichterung und fördert unsere Selbstliebe. Wie man heute weiss, entwickelt man durch Selbstfreundlichkeit und Selbstmitgefühl automatisch mehr Lebensfreude. Beides bringt uns dazu, auch nachsichtiger und toleranter mit anderen Menschen zu werden, was sich wiederum in gemeinsamer Freude ausdrückt.



Powerfood für Freude

Und da sind bei der Kooperation und Verbundenheit mit anderen angekommen: Wesentliche Schlüssel für Gesundheit und wohl die grösste Quelle der Freude. Verbundenheit ist unser Lebenselixier und unser natürlichster Zustand. Somit sind mangelnde soziale Kontakte, wie auch viele Studien zeigen, ein Risiko für früheren Tod und mit täglichem Rauchen vergleichbar (dem Killer Nr.1 weltweit). Gemeint sind natürlich die realen Kontakte: lebendiger Austausch, mit Berührungen, Berührt-Werden, Gesehen- und Gehört-Werden. Die sozialen Medien können das niemals ersetzen. Verbundenheit beinhaltet auch das Gefühl, dass wir mit allem verbunden sind und Teil eines Grösseren. Mehr denn je braucht es heute solche Menschen, die diese Verbundenheit vorleben. Die allseitige Verbundenheit ist leicht erlebbar und wird zudem gefördert, wenn wir oft in der Natur unterwegs sind. Laufen. Sitzen. Sein. Den Boden unter den Füssen spüren oder mal wieder in der Erde wühlen. Die Natur erhöht das Gefühl der Freude unmittelbar, einfach, weil sie schön ist. Und weil sie für uns da ist und wir für sie da sind. Sie fordert von uns nichts – welch eine Wohltat!

Dankbarkeit ist schliesslich eine rasch wirkende und immer verfügbare Tugend, die ebenso massgeblich zum Wohlbefinden und reinem Glücksempfinden beiträgt. Eine wunderbare Übung zur Stärkung von Dankbarkeit ist das tägliche Notieren von mindestens drei Dingen, für die ich dankbar bin. Eine ebenso starke Wirkung auf uns hat es, wenn wir Dankbarkeit einem anderen Menschen gegenüber ausdrücken. Ein Tipp: Schreiben Sie einen Brief an einen lieben Menschen. Lesen Sie diesen bald dieser Person oder, wenn das nicht geht, sich selbst laut vor. 


Was wirklich zählt

Alle Aspekte ergänzen sich. Indem wir eine der Tugenden stärken, stärken wir auch zugleich eine andere. Der Hauptaspekt ist: Wir alle sind angewiesen auf Anerkennung und Liebe. Darum ist Mitgefühl als zutiefst menschliche Eigenschaft, diejenige, die sicher am bedeutendsten ist. Der Dalai Lama führt dies aus: «Der Grund dafür, dass Liebe und Mitgefühl das höchste Glück hervorbringen, liegt letztlich darin, dass uns diese Tugenden mehr bedeuten als alles andere. Der Wunsch nach Liebe ist in jeder menschlichen Existenz tief verwurzelt. Er entsteht, weil wir alle ganz grundlegend miteinander in Verbindung stehen und voneinander abhängig sind.»

«Die Natur erhöht das Gefühl der Freude unmittelbar,
einfach, weil sie
schön ist und uns nichts fordert.»


Mitgefühl ist eine Geisteshaltung, die auf dem Wunsch beruht, dass andere nicht leiden sollen. Es ist der tiefe Wunsch, dass andere befreit sind vom Leid. Es ist mit einem Gefühl der Verpflichtung, Verantwortung und des Respekts dem anderen Menschen gegenüber verbunden. Grösste Ruhe, so der Dalai Lama, sei im Inneren durch die Entwicklung und Kultivierung von Liebe und Mitgefühl möglich. Und je mehr wir uns um das Glück anderer kümmerten, desto grösser werde unser Gespür für Wohlbefinden. Warmherzige Gefühle der Nähe zu anderen Menschen zu pflegen, sei der Garant dafür, dass der Geist zu Ruhe käme. «So können wir sämtliche Ängste und Unsicherheiten besiegen und werden stark genug, alle Hindernisse zu überwinden. Das ist der wahre Schlüssel zum Erfolg im Leben.»

Lachen wir. Mögen wir mitfühlen. Leben wir das aus in einer Welt des Wahnsinns. Der US-amerikanische Dichter Jack Gilbert geht in «A Brief for the Defense» diesen Weg: «We must risk delight. We must admit there will be music despite everything.» Wir müssten, so schreibt er weiter, die Sturheit haben, unsere Freude zu akeptieren, in dem rücksichtslosen Brennofen dieser Welt. 

 

A Brief for the Defense

Sorrow everywhere. Slaughter everywhere. If babies
somewhere else. With flies in their nostrils.
But we enjoy our lives because that's what God wants.
Otherwise the mornings before summer dawn would not
be made so fine. The Bengal tiger would not
be fashioned so miraculously well. The poor women
at the fountain are laughing together between
the suffering they have known and the awfulness
in their future, smiling and laughing while somebody
in the village is very sick. There is laughter
every day in the terrible streets of Calcutta,
and the women laugh in the cages of Bombay.
If we deny our happiness, resist our satisfaction,
we lessen the importance of their deprivation.
We must risk delight. We can do without pleasure,
but not delight. Not enjoyment. We must have
the stubbornness to accept our gladness in the ruthless
furnace of this world. To make injustice the only
measure of our attention is to praise the Devil.
If the locomotive of the Lord runs us down,
we should give thanks that the end had magnitude.
We must admit there will be music despite everything.
We stand at the prow again of a small ship
anchored late at night in the tiny port
looking over to the sleeping island: the waterfront
is three shuttered cafés and one naked light burning.
To hear the faint sound of oars in the silence as a rowboat
comes slowly out and then goes back is truly worth
all the years of sorrow that are to come.

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