Durch den Verzicht zum Heil

Fasten bedeutet mehr als Verzicht auf Essen. Das sogenannte Heilfasten ist so alt wie die Menschheit. Es wirkt auf Körper, Geist und Seele. Neueste wissenschaftliche Studien bestätigen die positive Wirkung von Fastenkuren auf verschiedenen Ebenen.

Fabrice Müller

«Fasten ist wesentlich mehr als nichts essen – es öffnet Türen nach innen», sagte einst die erste deutsche Naturärztin und grosse Mystikerin Hildegard von Bingen (1098–1179). In ihrer Heilkunde spielt die Hinwendung zu sinnvoller und massvoller Lebensführung eine zentrale Rolle. Dabei hatte das Fasten eine grosse Bedeutung. Hildegard von Bingen sah im Fasten eine gute Möglichkeit, zur Ruhe zu kommen und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Per Definition bedeutet Fasten ein freiwilliger Verzicht auf feste Nahrung und Genussmittel für eine begrenzte Zeit. Dieses bewusste Ritual ist so alt wie die Völker der Erde. In der Geschichte der Medizin finden sich ärztlich verordnete Fastenkuren von Hippokrates, Herakleides von Tarent, Thessalus von Tralles und des Römers Cornelius Celsus. Und auch in der arabischen Medizin wurde das Fasten angewandt. Schon seit jeher hatte das Fasten eine spirituelle, aber auch medizinische und soziale Dimension. In allen Religionen und über alle kulturellen Grenzen hinweg haben Menschen gefastet. Somit ist das Fasten kein Alleinstellungsmerkmal des Christentums. Im Buddhismus wird Fasten als Weg zur Erleuchtung verstanden. Hinduistische Gläubige fasten hauptsächlich als Ausdruck der Busse und um ihre Seele von Sünde zu reinigen. Und im Islam bildet das Fasten eine der fünf heiligen Säulen und ist somit für alle Gläubigen obligatorisch.


Eine alte Form des Trinkfastens ist die Molkenkur.


Von Mahatma Gandhi bis Otto Buchinger

Grundsätzlich unterscheidet man zwischen Heilfasten und religiösem Fasten. In beiden Formen geht es jedoch um die körperliche Gesundheit als auch um das «Heil der Seele». In den Schriften von Heiligen und Päpsten finden sich in den Jahrhunderten nach Christus immer wieder Aufforderungen zum Fasten – sowohl für die heile Seele als auch für den gesunden Körper. Im 20. Jahrhundert wurde das Fasten unter anderem dank Mahatma Gandhi bekannt. Sein erstes grosses Fasten unternahm er im September 1924. Auch die moderne Medizin entdeckte die Wirkung von Fastenkuren. Mit nachhaltigem Erfolg verbreitete der deutsche Arzt Dr. Otto Buchinger das Heilfasten und gründete 1920 in Witzenhausen eine eigene Fastenklinik. Sein Ansatz kombinierte das Heilfasten mit medizinischer Überwachung, Bewegung und psychologischer Betreuung. Die Buchinger Fasten-Methode mit Säften und Gemüsebrühen ist bis heute die weitverbreitstete. Zur gleichen Zeit lebte und entwickelte der österreichische Arzt Dr. Franz Xaver Mayr die nach ihm benannte Mayr-Kur. Für ihn war der Darm als Zentrum des Immunsystems das «Wurzelsystem» unseres Körpers. Dieser Erkenntnis widmete F. X. Mayr seine lebenslange Forschung und legte damit den Grundstein für die heutige Mayr-Medizin. Seine Therapiemethode beruht auf der Schonung, Säuberung und Schulung des Verdauungsapparates. Nebst der Mayr-Kur entstanden auch andere Kuren wie etwa die Molkenkur und die Schroth-Kur, die es heute noch vereinzelt gibt.

Klarheit und Leichtigkeit

Ebenfalls schon lange als Fastenleiterin unterwegs ist Ida Hofstetter aus Männedorf ZH. «Am 10. Oktober 2004 läutete ich mit einem Glöckli die erste Kurswoche ein», erinnert sich Ida Hofstetter. Bis heute hat das Glöckli über 180-mal gebimmelt. Zusammen mit ihrem Team begleitete Ida Hofstetter 3700 Teilnehmende durch das Abenteuer Fasten. Ernährung, Bewegung, Entspannung und «gesundes Denken» waren schon in jungen Jahren ihre Lieblingsthemen. Nach und nach wuchs ihr Interesse fürs Fasten. Also entschloss sie sich, die Ausbildung zur Fastenleiterin zu absolvieren. Worin liegt für sie die Faszination des Fastens? «Am meisten fasziniert mich, wie gut man ohne Essen auskommen kann. Ich fühle mich beim Fasten putzmunter, habe eine Klarheit im Kopf und eine Leichtigkeit im Bauch, wie ich sie selten in diesem Ausmass im Alltag erfahre.» Nach dem Fasten spüre sie eine neue Energie und Lust, noch gesünder zu essen und zu leben. Ida Hofstetter spricht von einer «neuen Wohlgesinnung gegenüber mir und dem Rest der Welt». Und schliesslich fasziniere sie die einmalige Wirkung des Fastens auf die Gesundheit.

Körperlich, geistig und spirituell

Die Wirkung von Fastenkuren hat unlängst die Forschung auf den Plan gerufen. Auf der wissenschaftlichen Ebene hat die Fastenforschung seit 2016 – mit der Entdeckung bzw. breiten Bekanntmachung der Autophagie (Selbstverdauung) – richtig Fahrt aufgenommen. Heute forschen gemäss der Fastenkoryphäe Professor Andreas Michalsen von der Charité Berlin rund hundert Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zum Thema Fasten. Folgende Bereiche stehen dabei im Vordergrund: Lebensverlängerung durch Fasten, Fasten bei Krebs bzw. während Chemotherapien sowie entzündliche und altersbedingte Erkrankungen des Gehirns wie Demenz, Parkinson oder Multiple Sklerose.

Wie Ida Hofstetter informiert, wirkt Fasten körperlich wie auch geistig und spirituell: «Als Erstes wird der Stoffwechsel umgeschaltet. Dabei wechselt der Körper von der Ernährung von aussen zur Ernährung von innen, indem er auf die Fettreserven zugreift.» Weiter wechselt die Energiebereitstellung von Glukose (Zucker) auf Fett. Grund: Der Körper kann nur wenig Glukose speichern; die Vorräte reichen höchstens für einen Tag. Fett hingegen kann der Körper extrem viel speichern. Zu Beginn wird, so Ida Hofstetter, auch vom Eiweiss noch etwas Energie hergestellt, allerdings nur in geringem Mass. «Heute weiss man, dass der Körper dafür vor allem defekte Eiweissbestandteile nutzt. Vom früher behaupteten Eiweissabbau kann heute keine Rede mehr sein», erklärt Ida Hofstetter. Wichtig dabei sei, dass Fasten stets mit ausreichend Bewegung verbunden wird.

Recycling in den Zellen

2016 wurde für die bahnbrechende Erkenntnis der Autophagie (Selbstverdauung) der Nobelpreis der Medizin an den Japaner Yoshinori Ohsumi vergeben. Die Autophagie steht in direktem Zusammenhang mit dem Fasten. «Ohsumi hat herausgefunden, dass die Autophagie bei einer Nahrungsrestriktion auf Hochtouren läuft. Störendes und Überflüssiges wird in den Zellen abgebaut bzw. recycelt. Was nicht gebraucht werden kann, wird ausgeschieden», erläutert Ida Hofstetter. Auch die Zellreparatur werde beim Fasten angekurbelt: Gene, Proteine und Mitochondrien werden repariert. «Eine Autophagie, die ab und zu auf Hochtouren geschaltet wird, ist das A und O für ein gesundes, langes Leben. Durch die Autophagie wird in den Zellen aufgeräumt», sagt Ida Hofstetter und vergleicht diesen Vorgang mit dem Abtransport von Müll. «Je weniger Müll da ist, desto besser kann jede der rund 40 Billionen Zellen im menschlichen Körper funktionieren.» Wissenschaftlich belegt sei weiter, dass sich beim Fasten die Blutwerte wie auch der Blutdruck normalisieren. Im Darm werden die entzündungshemmenden Bakterien vermehrt, und auch alle weiteren Entzündungen werden reduziert, insbesondere rheumatische sowie chronische Schmerzen wie Kopfweh oder Migräne. Weiter findet eine Aktivierung der Stammzellen-Neubildung statt. Die Fettleber, heutzutage ein weit verbreitetes Gesundheitsproblem, wird reduziert. Laut der neuesten Forschung wirkt sich Fasten positiv auf Erkrankungen wie Multiple Sklerose, Parkinson und Demenz aus. Ausserdem werden die Selbstheilungskräfte gestärkt. «Fasten ist die einzig bekannte Methode der Lebensverlängerung, die bei lebenden Organismen nachgewiesen wurde», betont die Fastenleiterin.

Wohltuend für die Psyche

Zu den Wirkungen auf der mentalen, emotionalen und intuitiven Ebene fehlen noch wissenschaftliche Erkenntnisse. Doch die Erfahrungswerte sind laut Ida Hofstetter eindeutig: «Im Kopf kehrt Ruhe ein, das Gedankenkarussell dreht viel weniger oft; die häufigen Sorgengedanken weichen der Zuversicht; die Empfindungen von Wohlgesinnung, Freude und sogar Liebe sind wieder präsent. Und schliesslich nehme ich wahr, was für mich wirklich wichtig ist.» Nach den Angaben der Ärztegesellschaft Heilfasten & Ernährung e.V. können beim Fasten auf der Ebene des Nervensystems unter anderem depressive Verstimmungen sowie psychische Störungen gelindert werden.

Wie funktioniert Heilfasten?

Laut Ida Hofstetter besteht eine Fastenkur aus drei Teilen: der Vorbereitung (Entlastungstage), der Fastentage und der Aufbautage (Ausstieg aus dem Fasten). Während der Entlastungstage sollten die Ernährung auf möglichst pflanzliche Lebensmittel umgestellt und Genussmittel abgesetzt oder zumindest reduziert werden. In dieser Phase sollte man mehr trinken und allfälligen Stress reduzieren. «Auf diese Weise stellt man sich mental und körperlich auf das Abenteuer Fasten ein.» Die Buchinger-Methode beginnt als «Ritual» mit dem «Glaubern»: Mit Hilfe des Glaubersalzes, einem mineralischen, bitter schmeckenden Abführmittel mit Natrium sulfuricum, benannt nach seinem Entdecker Johann Rudolf Glauber (1604–1670), wird der Darm möglichst gut geleert, gleichzeitig verschwindet das Hungergefühl. Während der Fastentage besteht die Ernährung vor allem aus einem frisch gepressten Karottensaft am Morgen und aus einer Fastensuppe auf Gemüsebasis mit wenig Salz am Mittag und Abend. Pro Tag sollten mindestens zweieinhalb Liter Wasser und Kräutertee getrunken werden.


Ausreichend zu Trinken ist beim Fasten wichtig. Auch Frucht- oder Gemüsesäfte sind geeignet.


Am Morgen sieht Ida Hofstetter für ihre Fastengruppen immer eine Bewegungseinheit im Freien vor. Am Vormittag stehen meist Yoga oder Meditation auf dem Programm, und am Nachmittag zwei Wanderangebote: ein mindestens eineinhalbstündiges und ein zweieinhalb- bis dreieinhalbstündiges. Abends trifft man sich für einen Vortrag oder geniesst das Wellnessen. Ein Dampfbad, ein Saunagang oder eine Massage tun beim Fasten besonders gut. Wie der Einstieg sollte auch der Ausstieg aus dem Fasten sorgfältig erfolgen, wie Ida Hofstetter betont. So kann man das Fasten mit Kartoffeln oder einem anderen Gemüse oder klassisch mit einem gebackenen Apfel beenden. Danach folgen – je nach Dauer der Fastenzeit – zwei bis drei oder mehr Aufbautage mit leichter, möglichst pflanzlicher Kost. «Das Fastenende sollte sehr feierlich erfolgen – die Verzichtsleistung will gewürdigt werden», findet Ida Hofstetter.

www.fasten-wandern-wellness.ch
www.aerztegesellschaft-heilfasten.de

 

Auch Tiere fasten

Winterschlaf haltende Tiere schlafen beim Fasten, Zugvögel bewegen sich intensiv ohne Nahrung, und Pinguine können bis sechs Monate pro Jahr bei Aussentemperaturen bis minus 60 Grad fasten und sich währenddessen sogar mausern sowie ihre Eier legen.

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