Die verborgene Ordnung des Lebens
Menschen brauchen Rituale. Ohne sie verliert das Leben an Struktur, Bodenhaftung, Zusammenhalt und Spiritualität. Es gibt sie im grossen und im kleinen Stil, im Alltag und im Jahreskreis. Und auch wenn wir viele davon nicht mehr als solche erkennen - Rituale sind überall, am Mittagstisch, in politischen Inszenierungen, im spirituellen Kreis und sogar in der Liebesnacht.
Markus Kellenberger
Stellen Sie sich vor, Sie und ich begegnen uns an einem dieser schönen Sommertage zufällig auf dem Wochenmärit. Weil wir uns eher oberflächlich kennen, geben wir uns kurz die Hand, fragen gegenseitig, wie’s so geht, sagen noch was zum Wetter, und dass es das nächste Mal sicher für einen Kaffee reicht, dann verabschieden wir uns wieder, geben uns noch liebe Grüsse an die Gattin oder den Gatten mit – und setzen unseren Marktbummel fort. Ohne uns dessen bewusst zu sein, haben wir soeben eines der vielen zwischenmenschlichen Rituale vollzogen, die Ordnung und Struktur in unser Leben und ganz besonders in unser Zusammenleben bringen.
Wir sind von morgens bis abends in ein fein gesponnenes Netz von Ritualen eingebunden, wovon wir die meisten davon wohl nur als «Gewohnheiten» wahrnehmen – falls überhaupt, denn so selbstverständlich sind sie. Rituale beginnen nämlich nicht erst dann, wenn ein Priester oder eine Schamanin sie wirkmächtig vollzieht oder irgend ein Pomp wie bei einer Krönung oder ein traditioneller Handlungsrahmen wie in Kirchen klar macht, dass nun etwas Wichtiges zelebriert wird. Sie beginnen bereits im Kleinen, wie zum Beispiel dem Gutenachtkuss, den sich Liebende jeden Abend geben, dem «High-Five» nach einer erfolgreich erledigten Gruppenarbeit, dem «Heile, heile Säge»-Lied, das Eltern ihren kranken Kindern vorsingen oder eben in ritualisierten Begrüssungen.
Verbinden und beschwören
Rituale, die grossen und die kleinen, die bewussten und die unbewussten, haben zwei wichtige Aufgaben: sie verbinden uns als Menschen – und sie beschwören höhere Mächte. Erinnern Sie sich an die magischen Spiele Ihrer Kindheit? Sie balancierten zum Beispiel auf einem schmalen Mäuerchen – und wenn Sie es schafften, nicht herunterzufallen, dann sollte sich bald ein Wunsch erfüllen oder etwas Schlimmes gebannt sein. Diese Art des magischen Denkens, das mit Ritualen beschwört wird, ist uns Menschen eigen. Das war schon immer so und hat, wie es der Anthropologe Carel van Schaik mit seinen Studien belegt, viel mit unserer Evolution zu tun. «Während 99 Prozent unserer Geschichte waren wir als Jäger und Sammler in kleinen Gruppen unterwegs, die ohne verbindende Rituale nicht überlebt hätten», sagt er. Gemeinsam durchgeführte Rituale schufen Vertrauen, dienten der Konfliktlösung, festigten Bindungen innerhalb und ausserhalb der Gruppe, markierten auch Übergänge, wie zum Beispiel jene von Geburt und Tod oder dienten dazu, sich die Gunst magischer Geisterwesen zu sichern.
Die Menschen nutzten Rituale schon immer, um mit den Naturmächten in Kontakt zu treten und sie gnädig zu stimmen. Davon zeugen zum Beispiel die wunderbaren Malereien in der Chauvet- und der Lascaux-Höhle in Frankreich, von denen einige vor über 30 000 Jahren entstanden sind. Archäologen wie der Franzose Jean Clottes sind davon überzeugt, dass diese Malereien als Ausdruck einer schamanischen Urreligion zu verstehen sind, und sich die Menschen in diesen Höhlen im Rahmen ritueller Handlungen mit Geist- und Götterwesen, den Elementen und den Seelen der Verstorbenen verbanden.
Rituale sind Teil unserer DNA
Mit dem Übergang der Jäger- und Sammlerkulturen in die Sesshaftigkeit wurden die entsprechenden Rituale aus den Höhlen in eigens dafür gebaute Räume verlagert. In Göbekli Tepe, einer archäologischen Ausgrabungsstätte in Anatolien, wurden die bisher ältesten bekannten Tempelanlagen entdeckt. Sie sind über 11 000 Jahre alt und somit die direkten Vorgänger unserer heutigen Kirchen.
Das Bedürfnis nach Ritualen ist aber nicht einfach nur ein Teil unseres kulturellen und spirituellen Erbes, sondern genetisch tief in uns verankert, und zwar im sogenannten limbischen System. Das ist einer der entwicklungsgeschichtlich ältesten Teile unseres Gehirns, und jener Ort, der unsere Ängste, unser Schmerzempfinden und unsere Gefühle steuert. «Dort», sagt der an der Harvard-Universität in den USA forschende Neuropsychologe Michael Ferguson, «ist der Sitz unserer spirituellen Intelligenz, die sich in vielfältigsten Ritualen ausdrückt.» Und das aus gutem Grund: Sie haben die Kraft, überschiessende Emotionen zu beruhigen, und sind deshalb keine «Zugabe der Natur, sondern wichtige Überlebenswerkzeuge».
Wirkmächtig bis unter die Bettdecke
Kein Wunder also durchdringen Rituale, unter denen sich auch Zeremonien, Gewohnheiten und sogar Zwangshandlungen einordnen lassen, von morgens bis abends alle unsere Lebensbereiche. Einige davon sind so banal wie der Morgenkaffee, ohne den der Tag nicht beginnen kann, andere wie zum Beispiel Geburtstagsfeiern, religiöse oder aus dem Brauchtum stammende Festtage stärken den familiären und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Versprechen, Schwüre, Vertragsunterzeichnungen und Amtseide wiederum, die meistens auch mit einem kleinen oder grossen Zeremoniell verbunden sind, verpflichten Personen zu einem bestimmten Verhalten gegenüber ihren Partnerinnen und Partner, dem Arbeitgeber oder einem Land. Und spirituelle Rituale, die in Kirchen, Glaubensgemeinschaften oder im Kreise gleichgesinnter Menschen durchgeführt werden, öffnen Räume für Erfahrungen jenseits des Sichtbaren.
Selbst unsere Sexualität ist von Ritualen bestimmt – wenn auch unbewusst. Esther Elisabeth Schütz, die Gründerin des in Zürich beheimateten Instituts für Sexualpädagogik und Sexualtherapie ISP, betont deshalb in ihrer Arbeit, dass Sexualität erst dann wirklich erfüllend wird, wenn sie sich nicht nur auf den rein mechanischen Akt beschränkt, sondern auch der Magie einen Raum gibt. «Paare, die für ihre sinnlichen Stunden einen rituellen Rahmen gestalten, erleben eine Sexualität, die tief in die Seele geht», sagt sie. Unter einem rituellen Rahmen versteht Schütz eine bewusst geschaffene Atmosphäre, die gegenseitig auf die Bedürfnisse der Liebenden Rücksicht nimmt und dadurch nicht nur Ekstase ermöglicht, sondern auch Vertrauen fördert und echte Hingabe ermöglicht.
Die aus der hinduistischen und buddhistischen Philosophie stammende Liebeskunst Tantra hat dies zur Kunstform erhoben und erlebt zur Zeit als Gegenbewegung zur weit verbreiteten «mechanischen» Pornographie bei uns im Westen einen regelrechten Boom. «Tantrische Rituale wie die Tantramassage sind eine Form der Bewusstseinsentwicklung», sagt Marcel Ruchti, der in Thun die Tantra-Schule Herz und Sinne leitet. Dabei gehe es nicht in erster Linie um sexuelle Handlungen, sondern darum Körper, Geist und Seele auf sinnliche und achtsame Weise zu verbinden, für sich allein oder zu zweit.
Rituale heilen Menschen und Gemeinschaften
Psychologisch betrachtet haben Rituale eine nachweisbare Wirkung. Sie reduzieren Stress, fördern die Achtsamkeit und stiften Identität. Der Theologe und ehemalige katholische Priester Eugen Drewermann bezeichnet sie denn auch als «psychische Heilräume», die Hoffnung, Versöhnung und Trost schenken. In Trauerprozessen helfen Rituale, den Verlust eines geliebten Menschen oder auch des Arbeitsplatzes zu verarbeiten, bei Übergängen in andere Lebensabschnitte geben sie Sicherheit, und als Mittel der Konfliktbewältigung schaffen sie gemeinsame Bezugspunkte, die eine Versöhnung ermöglichen. Und gesellschaftlich betrachtet stabilisieren Rituale – vom religiösen Fest bis hin zu politischen Veranstaltungen – Gemeinschaften, weil sie Momente intensiv erlebter Gleichheit und Verbundenheit ermöglichen. Der auf Sozialrituale spezialisierte britische Anthropologe Victor Turner war sich sicher: «Ohne solche Momente gäbe es keine Zivilisation.»
Es gibt diesbezüglich aber auch die dunkle Seite der Rituale. Sie können missbraucht werden, was aktuell gerade weltweit wieder zu beobachten ist. Totalitäre linke und rechte Systeme oder auch einzelne Menschen, die ein solches anstreben, können Rituale nutzen, um auf beeindruckende Weise ihren Anspruch auf Macht zu demonstrieren. Paraden, Führerkulte und Massenveranstaltungen erzeugen mit fast hypnotischer Kraft eine emotionale Überwältigung, die viele in ihren Bann ziehen und sie zu Mitläuferinnen und Mitläufern machen kann. Zum Glück gibt es aber auch die gegenteilige Wirkung, denn Rituale haben auch die Kraft zur Befreiung. Protestmärsche, Streiks gegen Ungerechtigkeiten und Mahnwachen sind Beispiele für gesellschaftliche Rituale, die Veränderungen zum Guten hin bewirken können.
Die Sehnsucht nach neuen Ritualen
Weil der Mensch Rituale braucht, ist seit Jahren eine bemerkenswerte Entwicklung im Gang. Je leerer die Kirchen sind, desto mehr Menschen suchen Halt in anderen Formen von spirituellen oder sinnstiftenden Ritualen. Dazu gehören die wachsenden Angebote in Gestalt von Kakaoritualen, gemeinsam ausgeführten Achtsamkeitspraktiken, Visionssuchen, Ayahuasca-Wochenenden, tantrischen Workshops und Heil- und Trommelkreisen. Sie alle decken das urmenschliche Ritualbedürfnis auf neue und vielfältige Weise ab.
Der Kulturanthropologe Wolf-Dieter Storl, der sich intensiv mit der schamanischen Urreligion befasst und diese auch praktiziert, sieht darin «eine Rückkehr zu unserem animistischen Erbe». Dahinter verbirgt sich die Sehnsucht nach einer neuen Harmonie mit der Erde, die viele Menschen angesichts der fortschreitenden Umweltzerstörung verspüren oder wie Storl es in anderen Worten sagt: «Es ist die Wiederanknüpfung des Menschen an den Rhythmus von Mutter Erde.»
Ein weiterer Beleg für diese Entwicklung sind die unzähligen Bücher und Videos, die laufend auf den Markt kommen und Suchenden Anleitungen für die Gestaltung neuer und oft auf vorchristlichen Traditionen beruhenden Ritualen anbieten. Eine, die das wohlwollend kritisch beobachtet, ist Irene Elder Zumsteg. Seit rund dreissig Jahren arbeitet die in der Normandie lebende Schweizerin als zeitgenössische Schamanin und Seelenbegleiterin und hat einen Rat: «Solche Bücher können einem Inspirationen liefern», sagt sie. «Aber legen Sie sie auch wieder beiseite.»
Viel wichtiger als die «regelgerechte» Ausführung von Ritualen sei es, solche aus dem eigenen Herzen heraus zu entwickeln. «Lebendige Rituale verfolgen keine stereotypen Abläufe. Sie entwickeln sich immer neu und passen sich dem an, was gerade nötig ist, was verwandelt werden will oder einem Seelenzustand den nötigen Ausdruck verleiht.» «Begleitet von einem kräftigen Fluch kann das bewusste Zerschlagen eines Tellers befreiender und heilsamer sein, als sanfte Gesänge bei Mondlicht», sagt sie und lacht. Denn: «Rituale sollen nicht nur wirksam sein – sie sollen auch etwas ausspielen.» Wesentlich sei die Absicht, mit dem selbst gestalteten Ritual etwas Unsichtbares symbolisch sichtbar zu machen.
Auf der Suche nach unseren spirituellen Wurzeln
Auf der Suche nach neuen Ritualen wenden sich viele Menschen wieder alten, naturverbundenen Traditionen aus dem keltischen und germanischen Kulturkreis zu. Viele davon haben, wenn auch oft mit christlichen Inhalten bemäntelt, bis heute überlebt und spielen an kirchlichen Feiertagen und ganz besonders in schamanischen Ritualen eine wichtige Rolle.
Sowohl unsere keltischen als auch germanischen Vorfahren lebten vor der Christianisierung in einer Welt, in der die Natur nicht bloss eine auszubeutende Ressource war, sondern eine zu respektierende Wesenheit. Als Bauern, Viehzüchter, Jäger und Sammler waren die Menschen, die mit ihren Kulturen die Bronze- und die frühe Eisenzeit prägten, vollständig von den Jahreszeiten abhängig. Sie wussten, wann gesät, geerntet, geschlachtet oder eingelegt werden musste. Diese enge Bindung spiegelte sich auch in ihren Festen wider: so feierten die Germanen zum Beispiel rund um die Dezembermitte das Julfest, die Wiedergeburt des Lichtes, und rund um die heutigen Ostertage brachten sie ihren Fruchbarkeitsgöttinnen Opfer dar. Als bekanntestes Fest hinterliessen und die Kelten Samhain, ein Ahnen- und Totenfest, das Ende Oktober gefeiert und später von der Kirche zu Allerseelen und Allerheiligen umgedeutet wurde.
Die Menschen dieser Zeit lebten in einer mythischen Welt, in der alles beseelt war. Aus diesem Grund hatte für sie die Natur nicht nur eine praktische, sondern auch einen spirituelle Bedeutung. Pflanzen, Tiere, Sonne, Mond und Sterne waren Wesen, von denen das Schicksal der Menschen abhing, und die im Rahmen ritueller Handlungen um Rat gefragt und denen auch gedankt werden musste. Einige dieser Wesenheiten waren besonders heilig und und standen symbolisch für Ahnengeister und Götter, und Tiere wie der Hirsch repräsentierten die Fruchtbarkeit, der Wolf die Kriegskraft und der Rabe die Weisheit.
Wo die Götter in der Natur leben
Für die Kelten besonders heilig waren die Eichen, unter deren Schutz Versammlungen abgehalten wurden, und ebenso die auf ihren Ästen wachsenden Misteln, die für Fruchtbarkeitszauber und als Schutz gegen das Böse verwendetet wurden. Zudem waren auch Quellen und Flüsse heilige Orte, die verehrt und an denen Naturrituale durchgeführt wurden. Auch die Germanen verehrten Quellen und Flüsse, nutzten für ihre Rituale aber bevorzugt Waldlichtungen, sogenannte heilige Haine. Das bestätigt der römische Geschichtsschreiber Tacitus in seiner Schrift «Germania», die um das Jahr 100 n. Chr. entstand. Darin hielt er fest, dass Germaninnen und Gemanen es vorzogen, in der freien Natur zu beten, weil sie davon überzeugt seien, dass ihre Gottheiten dort und nicht in den von Menschen erbauten Tempeln wohnten.
Kelten und Germanen lebten in sogenannten animistischen Kulturen, das heisst, in ihrem Weltbild waren Mensch und Natur nicht voneinander getrennt. Alles, Menschen, Tiere, Pflanzen und Geistwesen, waren, wie dies bis heute bei vielen indigenen Völkern noch selbstverständlich ist, Teil eines gemeinsamen und gleichberechtigten Kosmos. Das ist eine Welt, zu der wir durch unseren Glauben an eine besondere Vormachtstellung des Menschen über alle Wesen, die Verbindung verloren haben – und nach der sich viele wieder sehnen. Vielleicht hilft uns die Wiederentdeckung alter und neuer, eigener Rituale, diese Verbindung wieder herzustellen.