Die Säftelehre der Humoralmedizin
Gesundheit durch innere Balance – dieses Prinzip steht im Zentrum der Humoralmedizin, einer der ältesten Heiltraditionen der Welt. Vier Säfte, eng verwoben mit den Elementen der Natur, sollen Körper und Seele im Einklang halten und so unsere Gesundheit beeinflussen. Lange vergessen, erlebt diese ganzheitliche Denkweise heute in der Naturheilkunde eine stille Renaissance.
Laura Columberg
Die Humoralmedizin – auch bekannt als Säftelehre – war über viele Jahrhunderte das dominierende medizinische Denksystem in Europa. Sie geht auf die griechischen Ärzte Hippokrates und Galen zurück und prägte die Medizin von der Antike bis in die Neuzeit. Im Zentrum dieser Lehre stehen die vier Körpersäfte: Sanguis (Blut), Cholera (gelbe Galle), Melancholera (schwarze Galle) und Phlegma (Schleim). Die Denkweise besagt, dass diese Säfte in jedem Menschen in individueller Mischung vorkommen und zirkulieren, um das körperliche sowie seelische Gleichgewicht herstellen und erhalten zu können. Gesundheit bedeutet, dass diese vier Säfte in stimmigem Verhältnis, also harmonisch im Menschen vertreten sind. Nimmt einer der Säfte überhand und es entsteht ein Ungleichgewicht, zum Beispiel durch falsche Ernährung, Stress, Umwelteinflüsse oder seelische Belastung, kann Krankheit entstehen.
Die vier Säfte und ihre Eigenschaften
Jedem der vier Säfte werden bestimmte Eigenschaften zugeordnet: Sanguis ist qualitativ warm und feucht, süss, entspricht dem Element Luft und wird mit Lebensfreude und dem Frühling in Verbindung gebracht. Unser Herz hat einen starken Bezug zu Sanguis. Cholera ist warm und trocken, bitter, entspricht dem Feuerelement, dem Sommer und steht für Tatkraft und Energie. Hier spielt unsere Leber eine wichtige Bezugsrolle. Gegensätzlich ist die Melancholera qualitativ kalt und trocken, sauer, entspricht dem Erdelement und wird verbunden mit Melancholie, Kreativität sowie dem Herbst. Hier zeigt sich der Milzbezug. Als vierter Saft ist das Phlegma kalt und feucht, salzig, dem Wasserelement zugeordnet und wird mit Ruhe, Trägheit und dem Winter verknüpft. Ein Organbezug kann hier zum Gehirn gemacht werden.
Diese vier Säfte prägen nach humoralmedizinischer Denkweise unsere Gesundheit. Sie können sich in Form von Krankheiten zeigen oder im besten Falle harmonisch, kaum spürbar in uns schlummern. Die Aufgabe einer naturheilkundlichen Fachperson – die mit humoralmedizinischer Denkweise arbeitet – besteht darin, ein gestörtes Gleichgewicht der Säfte wiederherzustellen oder prophylaktische, gesundheitserhaltende Hinweise zu geben.
Humoralmedizin heute
Heute spielt die Humoralmedizin in der Schulmedizin keine Rolle mehr, da ihre Grundlagen durch moderne Forschung überholt wurden. Dennoch lebt die Grundidee der Humoralmedizin – nämlich den Menschen in seiner Ganzheitlichkeit zu sehen und Gesundheit als ein Gleichgewicht innerer und äusserer Einflüsse zu verstehen – in der Naturheilkunde weiter:
Traditionelle Europäische Naturheilkunde (TEN): Hier wird die Säftelehre bewusst erhalten und in Therapiekonzepte integriert. Mithilfe der Irisdiagnostik erkennt man sowohl die Konstitutionstypen (zeigen sich im Auge auf der Regenbogenhaut), als auch ein humoralmedizinisches Säfteungleichgewicht, -verunreinigungen oder Stauungen. Zusätzlich wird durch das Anamnesegespräch dann auch das jeweilige im Vordergrund stehende Temperament des Menschen ermittelt.
Ernährungslehre nach TEN: durch gezielte Ernährungshinweise kann ein Säfteungleichgewicht reguliert werden, Lebensmittel werden eingestuft in warm, kalt, feucht, trocken.
Ab- und Ausleitungsverfahren: Methoden wie Schröpfen, Baunscheidtieren (durch einen nur oberflächlich angewendeten Stichler mit 33 Nadeln und einem speziellen Baunscheidtöl wird eine künstliche Entzündung erzeugt, um das Immunsystem und die Durchblutung anzuregen), Fussreflexzonenbehandlungen, Stoffwechsel- und Fastenkuren basieren auf der Vorstellung, den Körper von überschüssigen oder krankmachenden Stoffen zu befreien.
Pflanzenheilkunde nach TEN: in ganzheitlichen Betrachtungsweisen werden Heilpflanzen nicht nur wegen ihrer Wirkstoffqualität ausgewählt, sondern vor allem wegen ihrer wärmenden, kühlenden, trocknenden oder befeuchtenden Wirkung.
Bedeutung der Säfte für unsere Gesundheit
Zur Wiederherstellung oder prophylaktischen Erhaltung des gesundheitlichen Gleichgewichts gilt das Prinzip Contraria contrariis, was so viel bedeutet wie: überwiegt ein Saft, so wird gegengesteuert mit dem Gegenteil – Wärme gegen Kälte, Kälte gegen Wärme, Trockenheit gegen Feuchtigkeit und Feuchtigkeit gegen Trockenheit.
Sanguis (Blut) steht für Wärme und Feuchtigkeit, für Lebenslust, Tatendrang und Offenheit. Gerät es ins Übermass, fühlt man sich wie nach zu viel Sonnenschein und Wein an einem langen Sommertag: der Kopf ist warm, die Wangen gerötet, man redet und lacht viel – aber abends kommt keine Ruhe. Manche wachen mit Herzklopfen oder Nasenbluten auf, andere schlafen unruhig. Auch Sprunghaftigkeit, Unruhe und Nervosität können Thema sein.
Ausgleichend wirkt:
- Kalt und trocken: rohes Gemüse, Gurken, Blattsalate, Birnen, Beeren, Wassermelone, gesäuerte Milchprodukte wie Kefir oder Buttermilch, frische Kräuter wie Pfefferminze, Melisse, Oregano oder Petersilie
- Ein Nachmittagsschläfchen, Spaziergänge am Wasser oder in kühlen Wäldern
- Ausgewogenes Verhältnis zwischen Aktivität und Ruhe
- Mögliche Körpertherapieformen: erdende und entspannende Fussreflexzonenbehandlung, Massage oder Schröpfkopfmassage
- Mögliche Heilpflanzen: Brennnessel (blutreinigend), Hibiskus (sanft kühlend), Melisse (entspannt Herz und Geist), Weissdorn (stärkt das Herz)
Cholera (gelbe Galle) steht für Hitze und Trockenheit, für Schärfe im Charakter und Kraft im Handeln. Wenn zu viel davon da ist, reagiert man schnell gereizt, wird ungeduldig, findet Fehler bei anderen und bei sich selbst. Im Körper macht er sich zum Beispiel durch trockene Haut, bitteren Geschmack im Mund, Hitzegefühl, Sodbrennen und Verdauungsstörungen oder Entzündungen bemerkbar.
Ausgleichend wirkt:
- Kalt und feucht: rohes Gemüse, Gurken, gesäuerte Milchprodukte wie Kefir oder Buttermilch, Nature Joghurt, süsses Obst, frische Kräuter wie Petersilie, Dill oder Pfefferminze
- Meiden: scharf gewürztes Essen, Kaffee und Alkohol, Schweinefleisch
- Meditationen, Atemübungen, baden in kühlen Gewässern, Abendspaziergänge, Pausen im Schatten
- Mögliche Körpertherapieformen: lockernde Massagen, entspannende Schröpfkopfmassage oder Fussreflexzonenbehandlung
- Mögliche Heilpflanzen: Löwenzahn (unterstützt die Leber und Galle), Schafgarbe (regulierend), Kamille (kühlt und beruhigt), Kalmus (reguliert die Verdauung)
Melancholera (schwarze Galle) steht für Kälte und Trockenheit, für Nachdenklichkeit, Kreativität und Vorsicht, aber auch für Melancholie. Ist zu viel davon da, wirkt das Leben schwer und trüb. Gedanken kreisen um Sorgen, Antriebslosigkeit ist spürbar, der Appetit meist gering, die Verdauung langsam. Hände und Füsse sind oft kühl, die Haut trocken. Der innere Schutzmantel ist mager und Themen können einen schneller und nachhaltiger erschüttern.
Ausgleichend wirkt:
- Warm und feucht: Suppen, Wurzelgemüse, Eintöpfe, warmes Frühstück, wärmende und leicht süsse Gewürze wie Zimt, Anis, Curry, Kurkuma oder Safran
- Licht und Wärme: bereits am Morgen Sonnenschein tanken, Lichtlampen im Winter, warme Bäder, Bettflaschen, Saunagänge
- Geselligkeit pflegen, Musik hören, kleine kreative Projekte beginnen
- Mögliche Körpertherapieformen: haltgebende und entspannende Massagen, Schröpfkopfmassage, Fussreflexzonenbehandlungen
- Mögliche Heilpflanzen: Rosmarin (anregend), Johanniskraut (hebt die Stimmung), Fenchel (wärmt und fördert Verdauung), Heidekraut und Erdrauch (milzstärkend und entstauend)
«Die vier Säfte prägen unser körperliches und seelisches Befinden, und ihr Gleichgewicht ist Grundlage für Gesundheit.»
Phlegma (Schleim) – dieser Saft steht für Kälte und Feuchtigkeit, für Ruhe, Ausdauer und Beständigkeit. Zu viel davon macht träge: man friert leichter, fühlt sich schwer, aufgedunsen, wacht morgens müde auf und neigt zu Verschleimungen in Nase und Bronchien. Auch Gewichtszunahmen, Schwellungen und Stauungen können Thema sein.
Ausgleichend wirkt:
- Warm und trocken: gebratenes und gebackenes Gemüse, leicht salzige Speisen, warmes Frühstück, Gewürze wie Ingwer, Thymian, Rosmarin oder Galgant
- Meiden: zu viele kalte und ungesäuerte Milchprodukte, Weissmehl, Zucker, Schweinefleisch, pure Rohkost
- Tägliche Bewegung, auch bei schlechtem Wetter, und Wechselduschen
- Mögliche Körpertherapieformen: leicht aktivierende Massagen oder Schröpfkopfmassage, Fussreflexzonenbehandlungen
- Mögliche Heilpflanzen: Thymian (löst und bewegt Schleim), Ingwer (wärmt), Salbei (trocknet und klärt), Storchenschnabel (bewegt und stärkt das Lymphsystem)
Sie sehen – die Welt der humoralmedizinischen Säftelehre ist komplex, unbekannt und doch irgendwie vertraut und findet in einem Anklang, wenn man Einblicke erhält. Falls Sie eine ganzheitliche, humoralmedizinische Betrachtungsweise Ihrer Themen wünschen, kann Ihnen ein*e Naturheilpraktiker*in TEN Unterstützung schenken und individuelle Behandlungsansätze zusammenstellen.
Ein gesundes Leben ist nach humoralem Verständnis eines, das im Fluss bleibt – wie ein Bach, der weder austrocknet noch über die Ufer tritt. Wenn Wärme, Kälte, Feuchtigkeit und Trockenheit in einem sanften Wechselspiel miteinander tanzen, fühlen wir uns lebendig, kraftvoll und im Einklang mit uns selbst.