Die Macht der Grossen Eltern
Ohne unsere Ahnen wären wir nicht, wer wir sind. Sie haben uns äussere und innere Merkmale vererbt, und bestimmen damit unser Leben mehr als uns bewusst ist – ganz besonders dann, wenn es um alte Verletzungen geht, die manchmal generationenübergreifend weitergegeben werden. Meine Ahnen machen da keine Ausnahme.
Markus Kellenberger

Wenn man über die Ahnen schreibt, über die Frauen und Männer, die vor uns waren, dann darf ruhig etwas Pathos mitschwingen. Lassen Sie mich diese Geschichte deshalb so beginnen: Es war einmal vor vielen Sommern an einem Lagerfeuer in der Wüste. Die Männer vom Stamm der Söhne des Atta, genannt Ait ben Atta, erzählten mir die Geschichte ihres Volkes. Schliesslich fragten sie mich nach meiner Geschichte, und so sagte ich: «Ich bin Markus, der Sohn des Hansruedi; der der Sohn des Hans war; der der Sohn des Johannes war, der der Sohn des Bartholomäo war. Wir und viele andere davor sind der Stamm der Söhne des Kellenberger.» Die Männer am Feuer nickten und lachten anerkennend.
Dann fuhr ich fort: «Ich bin aber auch der Sohn der Barbara Anna Wella; die die Tochter der Gerda Viadora Margaretha ist, die die Tochter der Anna Roswitha war, die die Tochter der Lotte Amalia war. Sie und viele andere davor sind meine Mütter.» Jetzt schwiegen die Männer. Schliesslich sagte einer: «Du hast mächtige Ahnen.» Seit dieser Nacht vor fünfzehn Jahren am Feuer in der marokkanischen Wüste sind der Ait ben Atta und der Ait ben Kellenberger miteinander verbunden.

Auf der Suche nach der eigenen Herkunft
Das war der pathetische Teil, ab jetzt werde ich etwas sachlicher. Dank der Spurensuche meines Grossvaters kann ich meinen Stammbaum bis ins frühe 14. Jahrhundert zurückverfolgen. Damals wurde im Taufregister von Walzenhausen erstmals ein Jacob ab dem Kellenberg erwähnt. Später mischten seine Nachfahren bei den Appenzellerkriegen mit, und schlugen bei der Schlacht am Stoss ein paar Habsburgern den Schädel ein. Im 17. Jahrhundert wurden einige «von uns» der Hexerei bezichtigt, aber wieder freigesprochen – was auf einen gewissen Einfluss jener ab dem Kellenberg hindeutet. Die einsetzende Industrialisierung im 18. Jahrhundert nutzten sie dann, um sich als Handwerkerdynastie zu etablieren. Das ist meine Vaterlinie.
Die Mutterlinie ist schneller erzählt. Sie alle waren Hausfrauen, Putzfrauen, Fabrikarbeiterinnen, Wäscherinnen und Dienstmägde. Niemand hat sich je um ihren Stammbaum gekümmert, aber sie alle haben es geschafft, in einem feudalen Preussen zu überleben, das mit Menschen aus dem niedrigstem Stand nicht eben zimperlich umging. All diese Menschen aus dem Appenzell und die aus Preussen sind meine Vorfahren. Und ich bin jeder und jedem von ihnen dankbar – denn ohne sie gäbe es mich nicht.

Eine Quelle der Kraft und des Leidens
Die meisten von uns kennen gerade noch die Grosseltern, dann reisst die Erinnerung an weitere Vorfahren ab. In unserer westlichen Kultur ist das heute die Norm. Es zählt die Zukunft, die angestrebten Ziele, die fortlaufende Selbstoptimierung – und die Toten sind tot und werden möglichst schnell vergessen. Das ist schade, denn unsere Ahnen sind mehr als nur eine biographische Fussnote, über die man hinweg sehen kann. Sie sind unser biologisches und seelisches Erbe, ohne die wir nicht wären, was wir sind. Ob äusserlich oder innerlich – unsere weiblichen und männlichen Vorfahren leben in uns weiter. Sie sind sowohl eine Quelle der Kraft als auch des Leidens. Der Schweizer Psychiater Carl G. Jung sagte es so: «Ich habe das starke Gefühl, dass ich unter dem Einfluss von Dingen und Fragen stehe, die meine Eltern, Grosseltern und entferntere Verwandte unvollständig und unbeantwortet gelassen haben.» Auf dieser Erkenntnis basiert heute die sogenannte transgenerationale Traumatherapie, bei der es um die Auflösung vererbter Ängste und falscher Glaubensmuster geht.
Die nie verheilten Wunden der Ahnen Mütterlicherseits habe ich äusserlich den breiten Germanenkiefer geerbt, väterlicherseits die appenzellische Körpergrösse. Auch innerlich haben mir die beiden viele Eigenschaften weitergegeben, so zum Beispiel einen unbändigen Willen zu Freiheit und Selbstbestimmung, sowie ein gesundes Misstrauen allem Autoritären gegenüber. Aber: sie haben mir auch unangenehme Sachen vererbt, darunter Mutters Hang zur Depression und Vaters Hang zu selbstzerstörerischer Wut.
Und das kam so: Meine Mutter, die Tochter armer Nachkriegsflüchtlinge, musste wie alle ihre Geschwister schon als Kind zum Familieneinkommen beitragen, und wurde deshalb jeden Sommer an ein Restaurant verdingt, um in der Küche zu helfen. Dort wurde sie vom Patron regelmässig missbraucht, und als sie das ihrer von Kriegserlebnissen abgehärteten Mutter endlich erzählten konnte, meinte diese nur: da könne man nichts machen, das seien bessere Leute. Missbraucht und von der eigenen Familie im Stich gelassen, blieb ihr nur die Flucht in eine lebenslange, tiefe Trauer, die später auch uns, ihre Kinder, mitprägte. Erst im hohen Alter schaffte sie es, über ihr Leiden zu reden.
Mein Vater wiederum hatte das Pech, lange vor der Hochzeit seiner Eltern gezeugt worden zu sein. Seine Mutter, die schon als Kind ihre Eltern verloren hatte und streng religiös geworden war, litt ihr Leben lang darunter, der «Versuchung» und der «Sünde» nachgegeben zu haben. So blieb mein Vater ihr einziges Kind, zu dem sie aus lauter Scham über den vorehelichen Sex nie eine echte Herzensbindung herstellen konnte. In der Folge tat mein Vater alles, um geliebt zu werden. Die Verzweiflung darob, dass es nie genug Liebe war, die er bekam, zeigte er in Form ohnmächtiger Gewaltausbrüche. Auch das prägte mich und meine Schwestern. Erst kurz vor seinem Tod habe ich verstanden, dass er ein zutiefst verletztes und einsames Kind war – und deshalb habe ich ihm vergeben können.
Das «Blutgedächtnis» der Generationen
Ja, ich habe, wie die Männer damals in der Wüste festgestellt haben, mächtige Ahnen. Im Guten wie im Schlechten. Und sie alle leben in mir fort. Aber erst das Wissen um deren Geschichten hat mir die Möglichkeit gegeben, mich selbst besser zu verstehen. Konkret: zu verstehen, dass die manchmal aus dem Nichts auftauchenden Ängste und Wutgefühle nicht die meinen sind, sondern die meiner Eltern und deren Eltern. Es sind, wie es C. G. Jung ebenfalls formulierte, die «nie zu Ende geführten und aufgelösten» Geschichten der Vorfahren. Genau das, die Vererbung von seelischen Einflüssen an die Nachkommen, erforscht die neue Wissenschaftsdisziplin der Epigenetik. Sie hat belegt, dass schlimme und nie bewältigte Erfahrungen nicht nur die Psyche eines Menschen verändern, sondern auch seine Gene – und die können über Generationen hinweg weitergegeben werden. Das ist die schlechte Nachricht. Die gute ist: die transgenerationale Traumavererbung kann aufgelöst und geheilt werden.
Verschiedene psychologisch-therapeutische Ansätze, angefangen bei der klassischen Gesprächstherapie über unterschiedliche Traumatherapien und Methoden der systemischen Familienaufstellung gehen mittlerweile gezielt auf die Frage ein, welche Rolle alte Familiengeschichten bei einem psychischen Leiden eine Rolle spielen könnten. Denn: in vielen Familien, so wie in meiner, wird über erlebtes Unheil geschwiegen. Manchmal generationenlang. Und doch wirken diese nicht erzählten und unverarbeiteten Geschichten weiter, quasi als Schatten in der Biografie der Nachkommen. Die Kulturwissenschaftlerin Dolores Alfieri Taranto, die in den USA als Kind süditalienischer Armutsflüchtlinge geboren wurde, spricht in diesem Zusammenhang vom «Blutgedächtnis». Das ist ein schon fast poetischer Begriff für das, was die Epigenetik erforscht. Was unsere Ahnen erlebt haben, wirkt in uns nach, und das nicht nur über vererbte Gene, sondern auch in familieneigener Sprache, Verhalten, Erziehungsmethoden und eben auch als das berühmte Schweigen. Oft spüren Menschen intuitiv, wenn in ihrer Familiengeschichte – und deshalb auch mit ihnen – etwas nicht stimmt. Wer beginnt, nach den Ursachen von unerklärlichem Stress, Depressionen, Ängsten oder schwierigen Verhaltensmustern in seinem Leben zu forschen, kommt deshalb nicht darum herum, sich auch Fragen über die eigene Herkunftsfamilie zu stellen. In der Regel ist das kein Zuckerschlecken, das mit einem «Heiledeine- Ahnen-Wochenende» erledigt ist, sondern eine langwierige und oft auch erschütternde, am Ende jedoch lohnende Arbeit.
Vom inneren Kind und Ahnenreisen
Ein Weg dazu ist beispielsweise die die Arbeit mit dem «inneren Kind». Die beiden amerikanischen Psychoanalytikerinnen Erika J. Copich und Margarete Paul haben dieses Konzept, das sie selbst «inner Bonding», also innere Bindung, nennen, vor über dreissig Jahren entwickelt. Es ist heute Bestandteil vieler psychotherapeutischer Behandlungen. Beim «inner Bonding» geht es darum, im Verlauf einer Therapie mit jenen kindlichen Seelenanteilen in Kontakt zu treten, die in der Vergangenheit durch direkte Erfahrungen oder eben durch übernommene Gefühle und unverarbeitete Traumen früherer Generationen verletzt wurden. Ein anderer, spiritueller Ansatz zur Heilung übernommener Traumen, ist die schamanische Ahnenreise. Hier geht es darum, sich mit Hilfe verschiedener Rituale, Meditationssitzungen und letztlich durch trommeln erreichte Trancezustände mit den Geistern der Ahnen zu verbinden, um deren Verletzungen zu verstehen, die sie an uns weitergereicht haben. «Was wir in uns klären, wirkt in die Vergangenheit und in die Zukunft, also in beide Richtungen unserer Ahnenlinie », sagte mir Wowitan Uta Mani, dem ich eine solche Ahnenreise verdanke. «Nur so», erklärte der Medizinmann der Lakota-Indigenen in Süddakota, «können die eigenen Wunden und jene der Ahnen geheilt und das Weitergeben alter Traumen an kommende Generationen unterbrochen werden.»
Unsere Ahnen sind mächtiger als wir glauben. Sie sind nicht einfach Menschen, die vor uns waren, sondern sie sind auch die Stimmen in uns. Manchmal sind sie verletzt, manchmal sind sie weise – und manchmal suchen sie etwas durch uns, das sie in ihrem Leben nicht gefunden haben. Und jetzt, am Ende dieser Geschichte, werde ich deshalb noch einmal pathetisch: Wenn wir lernen, unseren Ahnen zuzuhören und ihre Geschichten zu verstehen, verstehen wir uns selbst. Und was wir dabei für uns lösen können, erlöst auch sie.
So finden Sie Ihre Wurzeln
Wenn Sie mehr über Ihre familiären Wurzeln erfahren oder einen Stammbaum erstellen möchten – dann braucht es neben Neugier und Ausdauer auch System. Mit dieser Anleitung können Sie sich Schritt für Schritt Ihrem Ursprung nähern:
- Beginnen Sie bei sich selbst Der erste Weg führt nach innen – oder genauer: in die eigene Familie. Fragen Sie Eltern, Tanten, Grosseltern. Durchstöbern Sie alte Familienbüchlein, Briefe, Fotos oder Tagebücher. Oft verbergen sich darin schon wertvolle Hinweise auf Namen, Daten, Orte oder Ereignisse. Alles, was Sie dabei finden, kann später helfen.
- Heimatort statt Geburtsort Entscheidend für die Ahnenforschung ist nicht der Geburts-, sondern der Heimatort, also die Gemeinde, in der ein Schweizer Bürger oder eine Bürgerin das Bürgerrecht erhalten hat. Zivilstandsdaten wie Geburt, Ehe oder Tod werden dort erfasst – selbst wenn das Ereignis ganz woanders stattgefunden hat. Falls Ihnen der Heimatort der Vorfahren nicht bekannt ist, können Sie sich an das Zivilstandsamt wenden. Oft lässt sich von dort aus der gesuchte Heimatort herausfinden.
- Zivilstandsregister und Kirchenbücher Offizielle Zivilstandsdaten werden in der Schweiz seit 1876 zentral registriert. Für Ereignisse vor dieser Zeit – besonders vor 1800 – lohnt sich der Blick in die Kirchenbücher. Diese reichen teilweise bis ins 12. Jahrhundert zurück. Diese alten Bücher lagern heute in Gemeinde- oder Staatsarchiven, teilweise auch auf Mikrofilm. Dort können Sie – oft gegen eine Gebühr – Einsicht nehmen.
- Datenschutz und Schutzfristen Die Suche nach Ahnen ist auch eine Reise durch private Daten. Deshalb gelten für jüngere Einträge im Zivilstandsregister Schutzfristen. In der Regel dürfen Sie nur Einblick in die Daten direkter Vorfahren nehmen. Dazu ist ein Ausweis oder ein Verwandtschaftsnachweis nötig. Ältere Papierregister hingegen sind meist frei zugänglich.
- Hilfe holen Wenn Sie sich bei Ihrer Ahnensuche lieber begleiten lassen wollen, gibt es professionelle Genealoginnen und Genealogen, die gegen Honorar Nachforschungen übernehmen. Eine gute Anlaufstelle ist die Schweizerische Gesellschaft für Familienforschung (www. sgffweb.ch).
- Tipp zum Schluss Ahnenforschung ist wie ein Mosaik – manchmal fehlt ein Stein, manchmal fügt sich plötzlich alles zusammen. Was es braucht, ist Geduld, eine Portion Detektivgeist – und die Bereitschaft, sich überraschen zu lassen. Denn wer nach seinen Wurzeln sucht, findet oft mehr als nur Namen und Daten. Man findet Geschichten – und sich selbst ein Stück weit neu.
Die neue Rolle der Grosseltern
Die Rolle der Grosseltern hat sich im Verlauf der letzten hundert Jahre verändert. Familien leben nicht mehr eng in mehreren Generationen zusammen, wo alle aufeinander angewiesen sind. Die Grosseltern von heute sind deutlich unabhängiger – das kann alte Konflikte entschärfen, aber auch wieder hochkochen lassen.
Heute verbringen Grosseltern deutlich mehr Lebenszeit mit ihren Enkeln als frühere Generationen. 30 Jahre sind es bei den Grossmüttern, 26 bei den Grossvätern. Diese verlängerte Co- Präsenz eröffnet Chancen für echte Beziehungen. Gleichzeitig ist der demografische Wandel spürbar: Mehr Grosseltern verteilen sich auf weniger Enkel. Auch die Lebensentwürfe unterscheiden sich zunehmend. Patchworkfamilien, spätere Elternschaft, gleichgeschlechtliche Paare – das alles prägt den Rahmen, in dem Grosseltern heute wirken.
Nur noch ein Drittel aller Enkel lebt im selben Ort wie ihre Grosseltern. So entsteht ein neues Beziehungsmodell, das Soziologen als «intime Unverbindlichkeit» oder auch «freiwillige Nähe» beschreiben, denn die klassische Pflicht, auf die Kinder der Kinder aufzupassen, tritt zurück. Grosseltern helfen situativ, springen ein, wenn Not an der Frau oder am Mann ist – aber sie pochen zugleich auch auf ihre Selbstbestimmung. Das Leben der Grosseltern ist oft ebenso prall gefüllt wie das der Eltern.
Wenn ungeklärte Konflikte mitschwingen
Diese Unabhängigkeit entschärft Machtkämpfe über Erziehungsfragen. Denn wo keine festen Pflichten sind, entstehen weniger Konflikte. Nichtsdestotrotz kommen mit dem Enkelkind oft auch alte Themen wieder ans Licht. Ungeklärte Konflikte mit den eigenen Kindern, vergangene Verletzungen oder festgefahrene Rollenbilder tauchen erneut auf. Das Enkelkind kann also eine Brücke zwischen den Generationen sein – aber auch Sprengstoff.
Und dennoch: Die meisten Grosseltern erleben ihre Rolle als zutiefst bereichernd. Enkelerfahrungen schenken Lebendigkeit, stärken Bindungen und ermöglichen das Nachholen eigener Versäumnisse aus der Elternzeit. Der Schweizer Soziologe François Höpflinger spricht von einer neuen Generation Grosseltern, die nicht mehr erziehen, sondern die Enkelkinder begleiten wolle. So entsteht ein neues Rollenbild: Grosseltern sind nicht mehr nur idealisierte Retterfiguren, sondern lebendige, vielstimmige Resonanzkörper, Vermittler zwischen den Generationen und im besten Fall auch die Erzähler der Familiengeschichten.