Die geheimnisvollen Tage zwischen den Jahren

Die Wintersonnenwende und die darauf folgenden zwölf Raunächte sind die Zeit, in der das alte Jahr vergeht, und das neue erst noch werden muss. In diesen Tagen, glaubten unsere Ahnen, wandern die Seelen zwischen den Welten, Tiere und Träume können reden, und das Schicksal webt an den Ereignissen des kommenden Jahres. Wer sich der Magie dieser speziellen Jahreszeit hingibt, erlebt nicht nur die Wiedergeburt des Lichts, sondern findet auch die Kraft für grosse, persönliche Veränderungen.

Markus Kellenberger

Eine Freundin rief mir vor kurzem das berühmte Zeitgedicht von Kohelet wieder einmal in Erinnerung. Es findet sich im Alten Testament in den «Büchern der Weisheit», und wurde vor rund 2200 Jahren von einem Wanderphilosophen vorgetragen, wie Bibelforscher vermuten. Es lautet:

«Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter

dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit:

eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben,

eine Zeit zum Pflanzen und eine Zeit zum Abernten der Pflanzen,

eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen,

eine Zeit für die Klage und eine Zeit für den Tanz,

eine Zeit zum Steinewerfen und eine Zeit zum Steinesammeln,

eine Zeit zum Umarmen und eine Zeit, die Umarmung zu lösen,

eine Zeit zum Zerreissen und eine Zeit zum Zusammennähen,

eine Zeit zum Schweigen und eine Zeit zum Reden,

eine Zeit zum Lieben und eine Zeit zum Hassen,

eine Zeit für den Krieg und eine Zeit für den Frieden.

Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel

gibt es eine bestimmte Zeit. Und überdies hat Gott Ewigkeit in alles gelegt.»

Mich rührt dieses Gedicht, denn es drückt wie kein anderes aus, wie sehr wir alle in einem sich ewig wiederholenden Kreislauf eingebunden sind. Ganz besonders spürbar wird das für mich gegen Ende Dezember, in der stillsten Zeit des Jahres, wenn wir Menschen uns an die Wärme zurückziehen, draussen die Erde in der Dunkelheit ruht und alle Wesen auf die Wiedergeburt des Lichts warten. Die Wiedergeburt des Lichts, das ist der 21. Dezember, der Tag der Wintersonnenwende, denn von da an werden die Tage langsam wieder länger und die Zeit der magischen Raunächte beginnt.

 

Die Rückkehr des Lichts

Die Wintersonnenwende war in allen alten Kulturen rund um die Welt ein heiliger Moment und ist es bis heute geblieben. Bei den Kelten feierte man Yule, das Wiedererwachen des Sonnenkindes, das aus der Dunkelheit geboren wird; bei den Germanen war es die Zeit, in der Odin – im Gebiet der heutigen Schweiz nannte man ihn Wodan – mit seinem wilden Heer über die Himmel zog; und später legte die frühe christliche Kirche genau in diese Zeit die Geburt Jesu, der als «wahres Licht» gilt. Auch wenn sich Form und Inhalt dieser speziellen Tage und Nächte, die bis zum 6. Januar dauern, im Lauf der Jahre geändert haben, die Botschaft blieb immer dieselbe: Das Licht kehrt zurück.

Für die Menschen der Vergangenheit war dieser Moment nicht nur astronomisch bedeutsam, sondern in erster Linie zutiefst existenziell. Ihr Leben hing mehr als heute in unserer globalen Wirtschaftsordnung vom Kreislauf der Jahreszeiten ab, vom Rhythmus von Saat und Ernte. In den Wintermonaten schwanden die Vorräte oft bedrohlich, und in den langen, dunklen Nächten war der Tod spürbar. Mit der Wiedergeburt des Lichts, mit den wieder länger werdenden Tagen, verknüpften die Menschen die Hoffnung auf einen neu beginnenden Lebenskreislauf aus Saat und Ernte.

Im Tod keimt das neue Leben

Die Dunkelheit dieser Tage war aber mehr als nur ein Mangel an Licht und Essen, sondern bot auch Raum für eine Innenschau. Die Zeit zwischen den Jahren war eine Zeit ohne feste Ordnung. «In alten Bauernkalendern fehlen diese Tage», sagt der Kulturanthropologe Wolf- Dieter Storl, «denn sie waren unheimlich und heilig zugleich.» Die Menschen glaubten, dass in den auf die Wintersonnenwende folgenden zwölf Raunächten das Schicksal von übernatürlichen Wesen neu gesponnen wurde. «Es hiess, wer in dieser Zeit aufmerksam träumte, könne erahnen, was das neue Jahr bringen würde.» So entstand der Brauch, jede der zwölf Raunächte einem Monat des kommenden Jahres zuzuordnen – die Träume der ersten Nacht galten als Vorzeichen für den Januar, die der zweiten für den Februar und so weiter.

In den alten Sagen sind die Raunächte auch eine Zeit, in der sich Himmel und Erde berühren. Die Tiere können sprechen und die Geister der Ahnen nehmen Kontakt mit den Lebenden auf. Alles, die Menschen und die Tiere, die Toten und die Lebenden, sind in diesen Tagen und Nächten nah beieinander. Das spüren wir heute noch, wenn wir in einer klaren Winternacht hinaus gehen und der Himmel voller glänzender Sterne ist – und es scheint, als würde er uns ansehen. In solchen Momenten wird unser uraltes Bewusstsein berührt, das weiss, dass alles untrennbar in einem ewigen Kreislauf miteinander verbunden ist, und dass im Sterben schon das Neue keimt.

Wenn der Rauch sich hebt

Es gibt kaum ein Ritual, das die Raunächte so stark prägt wie das Räuchern von Häusern, Ställen und Herzen. Der Rauch schützt dabei nicht nur vor bösen Mächten, sondern steht auch für alles, was mit dem alten Jahr gehen darf: Sorgen, Spannungen, Ängste und bedrückende Erinnerungen. Jedes der zum Räuchern verwendeten Kräuter hat seine eigene Bedeutung. Beifuss zum Beispiel soll den Weg für das Neue öffnen und die Dunkelheit im Herzen vertreiben, Wacholder klärt die Seele und schützt vor Geistern, Weihrauch erhebt den Geist, Salbei reinigt und Fichtenharz stärkt.

Viele dieser Bräuche sind uralt – und über alle Konfessionen hinweg erstaunlich lebendig geblieben. Bis heute entzünden Menschen Räucherwerk, öffnen dabei die Fenster in der Nacht und bitten um Führung und Segen für das kommende Jahr. Das, was früher als Zauberei und Aberglaube galt, nennen wir heute wohl eher Achtsamkeit – doch die Geste bleibt dieselbe: Es ist ein bewusster Umgang mit Übergängen, mit dem rational nicht fassbaren Unsichtbaren und mit der Kraft der Erneuerung. Beim Räuchern geht es also weniger um Aberglauben, sondern um eine bewusste Handlung des Loslassens und des Neuanfangs. Der Rauch ist das sichtbare Symbol dafür, dass Altes in eine neue Form übergeht und dass auch wir wandlungsfähig sind. Viele Bräuche rund um die Raunächte mögen aus der Perspektive der Aufklärung archaisch erscheinen – und trotzdem tragen sie eine psychologische und spirituelle Tiefe in sich, die zeitlos und religionsübergreifend ist. Tatsache ist auch, dass Rituale wirken, denn sie sind sinnlich und geben Unsichtbarem wie zum Beispiel Hoffnungen eine Gestalt und verwandeln so innere Prozesse in Handlungen. Die meisten Menschen brauchen solche Formen, um inneren und äusseren Übergängen die nötige Ernsthaftigkeit zu verleihen und sie bewusst zu erleben. In der Sprache des Psychologen C. G. Jung könnte man deshalb sagen: Die Raunächte öffnen das Tor zum kollektiven Unbewussten. Sie führen uns dorthin, wo Mythen, Symbole und Träume wohnen, also dorthin, wo die Seele die Kraft findet, sich selbst zu reinigen und zu heilen.

Die weibliche Seite der Raunächte

Reinigende Rituale sind in allen spirituellen Traditionen und Religionen denn auch der erste Schritt hin zur Erneuerung. In den Raunächten wird deshalb nicht nur das Haus gereinigt, sondern es wird auch verziehen und Streit beigelegt, und es findet eine Versöhnung mit seinen eigenen Unzulänglichkeiten statt. Altes stirbt – und mit dem wieder erwachten Licht wird Neues geboren. Diese Symbolik ist uralt. Im alten Rom beispielsweise stand dafür der doppelgesichtige Gott Janus, dessen Name noch im Monat Januar fortlebt. Mit seinen zwei Gesichtern, von denen eines nach hinten und eines nach vorne blickte, wachte er über Türen, Tore und Übergänge. In den nördlichen Ländern war es Frau Holle, die in der dunklen Jahreszeit über die Ordnung der Welt wachte. Sie prüfte, ob die Menschen ihre Arbeit getan, ihre Betten geschüttelt und ihr Inneres aufgeräumt hatten.

Übrigens: Viele der überlieferten Bräuche rund um die Wintersonnenwende und die Raunächte sind weiblich geprägt, denn es geht dabei um Tätigkeiten wie Hüten, Wandeln und Gebären. Bevor in patriarchalen Gesellschaften die Götter männlich wurden, waren sie weiblich. In den Mythen verschiedener Völker erscheint die Dunkelzeit im Dezember als die Zeit der Grossen Mutter, die die Sonne wieder gebiert. In keltischen Überlieferungen heisst sie Birgid, bei den Germanen Holle oder Freya, und das Christentum machte aus ihr Maria. Alle diese Göttinnen stehen für dasselbe Bild: In der Dunkelheit ruht der Samen des Neuen, Geburt braucht Stille, Wärme und Geduld. Und genau das ist vermutlich die tiefste Botschaft der Raunächte, nämlich dass Erneuerung nicht aus Hast entsteht, sondern aus Hingabe.

Zurück in den Kreislauf der Natur

Während wir heute in Kalendern, Agenden und Uhrzeiten denken, folgten unsere Vorfahren – ähnlich wie die meisten indigenen Völker – ausschliesslich den Zyklen der Natur. Sie wussten, dass nach der Ernte die Ruhe kommt und nach dem Winter das Erwachen, Jahr für Jahr für Jahr. Die Raunächte sind das Sinnbild dieses ewigen Rhythmus. Sie erinnern uns daran, dass Stillstand kein Verlust ist, sondern eine wichtige Voraussetzung für neues Wachstum. Wer immer geradeaus weiterläuft, verliert irgendwann einmal die Verbindung zum eigenen Kreislauf. So wie die Erde sich im Winter in sich zurückzieht, um Neues zu gebären, dürfen auch wir uns erlauben, in Ruhe nach innen zu schauen, um wiedergeboren zu werden.

«Sterben und Werden» – diese Worte von Johann Wolfgang Goethe beschreiben kurz und klar das Prinzip, das den Raunächten zugrunde liegt und erfahrbar wird. In der Dunkelheit stirbt das Alte in uns, das können überkommene Vorstellungen, blockierende Gewohnheiten und auch alte Rollen sein, die wir glauben, spielen zu müssen. Und im selben Atemzug beginnt leise und erst unscheinbar, aber lebendig, Neues zu wachsen. Die Natur lebt uns das vor. Jeder Winter ist ein Sterben, und jeder Frühling ist ein Werden. Beides gehört zusammen, denn ohne den Mut zu sterben gibt es kein neues Leben. Wer die Raunächte bewusst angeht, spürt diese Kraft. Vielleicht brennt im Zimmer eine Kerze, vielleicht ist es nur ein nachdenklicher Moment am Fenster oder draussen unter dem Himmel – aber in dieser Stille kann etwas in uns aufsteigen, ein Gefühl, ein Gedanke oder eine leise Ahnung davon, wie, was und wer man im kommenden Jahr sein möchte. Diese Zeit zwischen den Jahren ist auch von Vergebung und Hoffnung geprägt, und wenn wir uns in diesen Tagen auf das Abenteuer von Tod und Wiedergeburt einlassen, dann tun wir etwas sehr Altes und gleichzeitig sehr Menschliches: Wir ehren den Rhythmus des Lebens. Das alte Jahr hat seine Arbeit ebenso getan wie alte Gewohnheiten, die es abzulegen gilt. Das neue Jahr liegt noch ungeschrieben vor uns, und während draussen vielleicht gerade Schnee fällt oder Nebel über die Wiesen zieht, steht – für mich jedenfalls – fest: Die Wintersonnenwende und die Raunächte sind ein heiliges Geschenk an uns, das wir annehmen dürfen. Nicht müssen. Und so schliesst sich der Kreis und wir kehren in einer leichten Abwandlung zu Koherets Gedicht zurück: Es gibt eine Zeit zum Sterben und es gibt eine Zeit für die Wiedergeburt.

 

Raunächte –  woher der Name kommt

Der Begriff «Raunächte» hat eine lange Geschichte, die weit in die Zeit zurück reicht und tief in der deutschen Sprache, Kultur und Mythologie verwurzelt ist. Ursprünglich begannen die Raunächte, die bis zum 6. Januar gezählt werden, um den 21. Dezember herum, dem Tag der Wintersonnenwende. Das Christentum legte später den Beginn der Raunächte auf den 25. Dezember fest, auf den Geburtstag von Jesus. Es gibt verschiedene Theorien über den Ursprung des Wortes:

Rauch-Nächte: Eine davon besagt, dass der Begriff von «Rauch- Nächten» abgeleitet ist. Dies bezieht sich auf die Tradition, in diesen Nächten Häuser und Ställe mit Kräutern auszuräuchern, um böse Geister zu vertreiben und Segen für das kommende Jahr herbeizurufen. Deshalb wurde das Wort lange als Rauhnacht geschrieben, bis sich in der heutigen Zeit hauptsächlich Raunacht, also ohne «h», durchsetzte.

Raue Nächte: Eine andere Interpretation leitet den Namen von «rauen» oder wilden Nächten ab. Dies könnte sich auf den Glauben beziehen, dass in dieser Zeit wilde Geister und dämonische Wesen besonders aktiv sind.

«Ruche» Dämonen: Im alemannischen Sprachraum gibt es die Vorstellung von «ruchen», also rauen, pelzigen, hässlichen Dämonen, die in diesen Nächten ihr Unwesen treiben. Der aus dem Althochdeutschen stammende Begriff könnte sich also auf diese mythologischen Wesen beziehen. Auch wenn sie nicht mehr in die Zeit der Raunächte fallen: die «Wüeschte» Silvesterchläuse im Appenzellischen sind ein Beispiel dafür.

 

Rituale zur Wintersonnenwende und während der Raunächte

Die Rituale zur Wintersonnenwende und in den Raunächten verbinden alte Überlieferungen mit modernen Bedürfnissen nach Orientierung und Einkehr. In früheren Zeiten symbolisierten diese Tage die Geburt der Sonne; heute stehen sie für die eigene Erneuerung. Einfache und ganz persönlich gestaltete Handlungen bieten dazu einen zeitlosen Rahmen, um den Übergang zwischen den Jahren bewusst zu erleben. Hier sind fünf Ritualvorschläge, die helfen, diesen Übergang zu gestalten:

  1. Lichtzeremonie – Symbol des Neubeginns: Das Entzünden von Kerzen oder eines Feuers steht für das Wiederkehren des Lichts. Während man den Flammen zusieht, können alte Gedanken losgelassen und neue Absichten formuliert werden. Manche schreiben Gewohnheiten oder Sorgen auf Zettel und übergeben sie dem Feuer als Zeichen des Wandels.
  2. Verbindung mit der Natur – Stille und Wahrnehmung: Ein Spaziergang in den frühen Morgen- oder Abendstunden schafft Bewusstsein für die Zyklen der Erde. In der Stille lassen sich Ruhe und Erneuerung spüren. Ein kurzer Aufenthalt an einem besonderen Ort, etwa unter einem Baum oder auf einer Lichtung, vertieft das Gefühl der Verbundenheit.
  3. Meditation und Rückblick: Die Sonnenwende lädt zur Reflexion ein: Was darf enden, was soll beginnen? Eine Kerze kann dabei den inneren Fokus unterstützen. Gedanken und Erkenntnisse lassen sich aufschreiben, um Klarheit über die eigenen Wünsche und Ziele für das kommende Jahr zu gewinnen.
  4. Räucherzeremonie – Reinigung und Klärung: Das Räuchern mit Kräutern wie Salbei, Beifuss oder Wacholder dient der symbolischen Reinigung. Der Rauch wird durch die Räume geführt, um Altes zu verabschieden und Platz für Neues zu schaffen. Danach werden die Fenster geöffnet, um frische Energie hereinzulassen.
  5. Aufschreiben und Dankbarkeit: Zum Abschluss werden Wünsche und Ziele für das neue Jahr aufgeschrieben – positiv formuliert, als wären sie bereits Wirklichkeit. Wer möchte, führt ein kleines Dankbarkeitstagebuch, um die Aufmerksamkeit auf Fülle und Gelingen zu lenken.
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