Die empfindsame Kraft
«Ach, bist du wieder mal ein Sensibelchen!» Bei den meisten prallt ein solcher Spruch einfach ab, aber einigen Menschen geht er ans Herz, denn sie sind tatsächlich hochsensibel und nehmen ihre Umwelt und sich selbst intensiver war als andere. Das ist für sie sowohl belastend als auch eine Stärke, die einige als solche erst noch für sich entdecken müssen.
Markus Kellenberger
Hochsensibilität ist ein spannendes Forschungsfeld. Vieles ist noch unklar, eines aber ist bereits gewiss: «Hochsensibilität stellt keine Diagnose dar», sagt Daniele Gubser. Sie ist keine Krankheit, sondern wird als «kontinuierlich ausgeprägtes Persönlichkeitsmerkmal» verstanden. Gubser arbeitet am Psychologischen Institut der Universität Bern und untersucht, wie einzelne oder verschiedene Persönlichkeitsmerkmale mit Hochsensibilität zusammenhängen.
Aber was ist das überhaupt, Hochsensibilität? Tatsächlich erleben manche Menschen die Welt um sich herum besonders intensiv. Sie haben aussergewöhnlich feine Antennen für die Stimmungen anderer Menschen, nehmen mehr Details war als andere oder reagieren empfindlicher auf Reize, die auf sie einprasseln, wie grelles Licht, Gerüche, Lärm, Berührungen oder Gedränge. Ihre eigenen Emotionen nehmen sie ebenfalls besonders stark war und sind entsprechend schneller traurig, gereizt oder fröhlich als ihre Mitmenschen, in deren Augen sie entweder nah am Wasser gebaut oder von überschäumender Wesensart sind. Dass man all diese Menschen – es sind je nach Erhebung zwischen 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung – heute hochsensibel nennt, verdanken sie der amerikanischen Psychologin Elaine Aron.
Aron war nach einem medizinischen Eingriff psychisch schwer angeschlagen. Ihre Therapeutin konnte jedoch keine psychische Erkrankung feststellen und nannte Aron schlicht «hochsensibel», nicht ahnend, dass sie ihr damit die Idee für ein neues Forschungsfeld lieferte. Nicht ganz dreissig Jahre ist es nun her, dass Aron mit einer eigenen Studienreihe vier Hauptmerkmale der Hochsensibilität herausgearbeitet hat und so den Grundstein für deren weitere Erforschung legte. Diese vier Hauptmerkmale, in der Psychologie als das DOES-Modell bekannt, sind:
Eine gründliche Informationsverarbeitung: Hochsensible Personen (HSP) beschäftigen sich überdurchschnittlich viel mit dem Sinn des Lebens, reflektieren unablässig über Vergangenes, malen sich Künftiges aus und sind von Tierleid, dem Leid anderer Menschen oder sozialer Ungerechtigkeit stärker betroffen als andere. Weil sie viel und detailliert reflektieren und Optionen abwägen, zeigen HSP oft Entscheidungsschwierigkeiten.
Eine ausgeprägte Übererregbarkeit: HSP haben Schwierigkeiten damit, äussere Reize wie Geräusche, Gerüche, optische Eindrücke, gespürte Erwartungen oder starke Emotionen auszublenden. Sie sind entsprechend schnell überfordert und gestresst, ziehen sich deshalb gerne zurück und zeigen häufig Symptome wie erhöhten Puls, schweissnasse Hände, Schlafprobleme, Appetitverlust, Magenbeschwerden oder Erschöpfung.
«Hochsensible Personen haben aussergewöhnlich feine Antennen für die Stimmungen anderer Menschen.»
Eine hohe emotionale Intensität und Empathie: Menschen, die mehr fühlen als andere, nehmen fremde und eigene Emotionen tiefer und intensiver war und reagieren entsprechend mit stärkeren Gefühlsausbrüchen auf unterschiedlichste Lebensereignisse, unabhängig davon, ob diese nun positiv oder negativ sind. HSP wirken auf ihre Mitmenschen deshalb oft als besonders verletzlich oder auch als besonders genussfähig.
Eine hohe sensorische Empfindlichkeit: HSP nehmen optische Eindrücke, Geräusche, Gerüche, Geschmäcker, Berührungen und Empfindungen aus dem eigenen Körper äusserst intensiv war. Elaine Aron geht deshalb auch davon aus, dass HSP stärkere Reaktionen als andere Menschen auf Medikamente zeigen – aber auch auf Umwelteinflüsse, was die auffällige Häufung von Allergien bei HSP erklären könnte.
Diese vier Hauptmerkmale, die hochsensible Menschen auszeichnen, sind oft nicht einfach festzulegen. «Häufig kommen Leute zu mir in die Beratung, die von dem DOES-Modell gehört haben und nun glauben, dass sie hochsensibel seien», sagt beispielsweise der auf Hochsensibilität spezialisierte Psychologe Tom Falkenstein. In Tat und Wahrheit aber befänden sie sich einfach in einer sensiblen Lebensphase. «Die vier Hauptmerkmale der Hochsensibilität müssen von Kindheit an beobachtbar sein und sich durch das ganze Leben ziehen.» Dazu brauche es eine seriöse Abklärung, denn Hochsensibilität dürfe nicht nach dem Motto, «weil ich so sensibel bin, bin ich so besonders», dem eigenen Narzissmus dienen. «Hochsensibel sein ist kein exklusiver Lifestyle», mahnt Falkenstein.
«Viele hochsensible Menschen hadern im Alltag mit ihrer Empfindsamkeit. Sie fühlen sich weniger belastbar als andere und fragen sich häufig, ob etwas mit ihnen nicht stimmt.»
Einmal hochsensibel, immer hochsensibel
Forschende an den Psychologischen Instituten von Universitäten in Bern, Graz oder Berlin sind sich nicht ganz einig darüber, woher eine Hochsensibilität kommt. Einige halten sie für eine angeborene Eigenschaft und begründen das damit, dass sich schon bei Babys Unterschiede darin feststellen lassen, wie sie auf Reize wie Licht, Geräusche oder Berührungen reagieren. Andere Forschende sehen in der Hochsensibilität eher eine Persönlichkeitsfacette, die sich – eventuell genetisch begünstigt – im Verlauf des Lebens ausprägt.
In einem Punkt aber sind sich alle Forschenden einig: Woher auch immer Hochsensibilität kommt, abtrainieren lässt sie sich nicht. Oft lässt sich aber der Alltag so umgestalten, dass er besser zu einer HSP passt, zum Beispiel durch mehr Ruhepausen, Homeoffice statt Grossraumbüro oder ein selbstbewusstes Coming-out.
Viele hochsensible Menschen hadern im Alltag mit ihrer Empfindsamkeit. Sie fühlen sich weniger belastbar als andere und fragen sich häufig, ob etwas mit ihnen nicht stimmt. Dabei bringt die besondere Feinfühligkeit auch Vorteile mit sich, denn sie nehmen ja nicht nur negative, sondern auch positive Erlebnisse besonders intensiv wahr. Hochsensible sind empfänglicher für Schönheit und Tiefgang, und unter den richtigen Umständen können sie ihre Stärken entfalten. Um nur einige davon zu nennen: musisches Talent, ein besonderes Einfühlungsvermögen und ein scharfer Blick für Details. Elaine Aron hat hochsensible Menschen deshalb mit Orchideen verglichen. Stimmen Temperatur und Feuchtigkeit nicht, gehen die empfindlichen Blumen schnell ein; unter idealen Bedingungen entfalten sie aber die allerschönste Blütenpracht.
Hochsensible Menschen können sich gut in andere einfühlen und hin und wieder auch völlig aus sich herausgehen.
Das «Coming-out» der hochsensiblen Männer
«Bis heute wird Sensibilität eher bei Frauen als bei Männern akzeptiert», sagt Tom Falkenstein. Erst recht eine Hochsensibilität. «Und das kann», fährt der in Berlin tätige Psychotherapeut und Buchautor fort, «fatale Folgen haben». So begehen Männer deutlich häufiger Suizid als Frauen, würden häufiger an Suchterkrankungen leiden, früher sterben und auch häufiger mit dem Gesetz in Konflikt kommen. Falkenstein glaubt deshalb, dass es Männern überdurchschnittlich oft nicht wirklich gut geht und sie sich zu wenig mit der eigenen Gesundheit und ihrer Rolle auseinandersetzen.
In seiner Praxis begegnet der Psychologe immer wieder Männern, die sich beklagen, seit ihrer Kindheit «zu sensibel» zu sein. Ihnen falle es schwer, Männlichkeit und Sensibilität unter einen Hut zu bringen. Tatsächlich, sagt Falkenstein, sei aller Wokeness zum Trotz Sensibilität noch immer nicht ein selbstverständlicher Teil des männlichen Ideals, mit dem die meisten Jungen aufwachsen, und deshalb würden sie ihre Sensibilität als ausgrenzendes Anderssein erleben.
Tom Falkenstein plädiert deshalb für eine Enttabuisierung des Themas, und zwar ganz einfach, indem hochsensible Männer im Rahmen eines Coming-outs zu ihrer Empfindsamkeit stehen, auch und besonders gegenüber weniger sensiblen Mitmenschen. Im geschützten Rahmen, beispielsweise in Männergruppen, lässt es sich üben, dass Gefühle, Empfindsamkeiten und Befindlichkeiten Stärken sind und ihren berechtigten Platz einnehmen dürfen. Männer können lernen, ihre Gefühle zu benennen, zu verstehen – und als Teil ihrer Männlichkeit auch auszuhalten.
Hochsensible Menschen haben spezielle Stärken
Wer hochsensibel durchs Leben geht, wird oft nur mit den Nachteilen seiner Begabung konfrontiert. Schade, denn hochsensible Menschen haben viele Stärken, die sie in der Familie, im Freundeskreis und am Arbeitsplatz einsetzen können. Forschende an verschiedenen Instituten, darunter dem Institut für Psychologie der Universität Bern und der Leopold-Franzens Universität in Innsbruck haben fünf Stärken von Hochsensiblen gesammelt:
1. Sensible kennen sich besser
Wer sehr empfänglich für Reize und Emotionen ist, weiss nach einer Zeit sehr genau über sich selbst, die eigenen Reaktionen aber auch die eigenen Bedürfnisse Bescheid. Was tut mir gut? Was fällt mir schwer und welche Situationen belasten mich am meisten? Was anderen entgeht, merken Sensible sehr genau und lernen sich dabei selbst am besten kennen.
2. Sensible entscheiden wohlüberlegt
Für Sensible ist es kaum vorstellbar, einfach so aus dem Bauch heraus Entscheidungen zu treffen. Zu hoch sind die damit verbundenen Risiken, die allesamt in den Entscheidungsprozess miteinbezogen sein wollen. Sensible brauchen länger für eine Entscheidung, ist diese jedoch getroffen, ist sie gut durchdacht und genau auf Vor- und Nachteile überprüft worden.
3. Sensible weichen der Verantwortung nicht aus
Einen Fehler einzugestehen fällt sensiblen Menschen nicht leicht, weil sie Kritik immer sehr ernst und oft auch sehr persönlich nehmen. Dennoch oder gerade deswegen übernehmen sie immer wieder Verantwortung und gehören dabei zu jenen, die eigene Fehler nicht anderen in die Schuhe schieben. Auf Sensible, die Verantwortung übernehmen, ist verlass.
4. Sensible arbeiten mehr als nur exakt
Wenn sensible Menschen eine Aufgabe übernehmen oder übertragen bekommen, werden sie diese sehr ernst nehmen. Sie spüren, was von ihnen erwartet wird, deshalb sind sie auch bereit, den nötigen Aufwand zu erbringen und auf jede Kleinigkeit zu achten, um der Aufgabe gerecht zu werden.
5. Sensible haben ein feines Gespür für Stimmungen
Kriselt es in der Familie, unter Freunden oder am Arbeitsplatz, dann fällt das nicht allen sofort auf. Sensible jedoch haben ein feines Sensorium für sich anbahnende Missstimmungen und Krisen und können deshalb deeskalierend eingreifen, bevor es zum Knall kommt. Sensible Menschen sind deshalb ein unentbehrliches «Frühwarnsystem» in jedem Team.
Fünf Strategien für den Arbeitsplatz
Weil hochsensible Menschen gerade am Arbeitsplatz einer ständigen Reizüberflutung ausgesetzt sind, geraten sie schnell in Stress. Wichtig für Betroffene ist deshalb, sich bewusst zu werden, welche Anzeichen vor einer beginnende Reizüberflutung erste Warnsignale senden – und entsprechend darauf zu reagieren. Bei beginnender Reizüberflutung hilft:
Beruhigen Sie sich mit Atemübungen
Jederzeit leicht umzusetzen sind Atemübungen, wie sie auch im Theaterbereich Verwendung finden. Besonders wichtig ist das langsame Ausatmen durch den Mund. Dabei aktivieren Sie das Nervengeflecht in der Brustkorb- und Magenregion, den Solarplexus.
Setzen Sie sich in Bewegung
Ebenfalls nicht zu unterschätzen ist Bewegung. Holen Sie sich einen Kaffee und gehen Sie ein paar Minuten an der frischen Luft spazieren. Ist das innerhalb der Arbeitszeit oder aufgrund der Pausenregelung nicht möglich, kann ein Gang zum Kopierer oder zur Toilette helfen, einer Reizsituation zu entkommen.
Lassen Sie Ihren Blick in die Ferne schweifen
Wenn alles zu viel zu werden droht, hilft oft schon ein längerer Blick aus dem Fenster, um die Gedanken wieder zur Ruhe kommen zu lassen. Umgekehrt können Sie auch die Augen schliessen. Konzentrieren Sie sich dabei auf sich selbst und machen Sie dazu – siehe oben – Atemübungen.
Verschliessen Sie die Ohren
Offene Arbeitsräume, in denen viel telefoniert, geredet oder hantiert wird, sind für Hochsensible oft zu viel des Guten. Tragen Sie Ohrstöpsel, um die Umgebungsgeräusche zu dämmen oder hören Sie alternativ über Kopfhörer Ihre Lieblingsmusik, sofern das erlaubt ist.
Schweigen ist Silber, reden ist Gold
Klären Sie Ihr Arbeitsumfeld offen über Ihre Hochsensibilität auf. Versuchen Sie, die Hochsensibilität zu erklären und nachvollziehbar zu machen. In einem guten Arbeitsumfeld kann das schon ausreichen, damit andere ein wenig Rücksicht nehmen und Ihre Reaktionen und Verhaltensweisen besser verstehen können.
Wenn ihnen die Welt zu viel wird, ziehen sich Hochsensible in sich zurück.
Buchempfehlungen
Elaine Aron: «Sind Sie hochsensibel?», Verlag MVG, 2005
Elaine Aron: «Hochsensibilität in der Liebe», Verlag MVG, 2015
Tom Falkenstein: «Hochsensible Männer»,
Verlag Jungfermann, 2017
Rolf Sellin: «Wenn die Haut zu dünn ist», Verlag Kösel, 2020