Bestens vernetzt, trotzdem einsam! Das moderne und digitale Leben fordert seinen Tribut. Doch wir können selbst etwas gegen Gefühle der Einsamkeit tun.
Lioba Schneemann
Noch nie waren wir so vernetzt, noch nie gab es so viele Möglichkeiten, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Jedoch fühlen sich immer mehr Menschen einsam. Eine weltweite Epidemie der Einsamkeit mache sich breit, so der Tenor. Junge wie Alte seien betroffen und ein steter Anstieg unaufhaltsam.
Studien gibt es auch schweizweit: Gemäss dem Bundesamt für Statistik (BFS) etwa sind mehr Jugendliche bzw. Frauen und Männer zwischen 15 bis 39 Jahren als alle anderen Altersgruppen von Einsamkeit betroffen (Bsp: 15- bis 24-Jährige: 59 Prozent, 25- bis 39-Jährige: 47 Prozent, 55- bis 64-Jährige: 38 Prozent).
Einsamkeit ist ein subjektiv emotionales Erleben, sich von anderen Menschen getrennt zu fühlen oder/und einen oder mehrere Menschen zu vermissen. Einsam kann man sich auch mit anderen zusammen, innerhalb einer Gruppe oder in der Beziehung fühlen. Man ist überzeugt, dass niemand da ist, der einen wirklich versteht, dem «ich etwas bedeute». Einsamkeit tut nicht nur weh, sondern macht uns langfristig krank.
Widerspruch zur Urnatur
Das Leben ist paradox: Im Grunde sind wir allein, dennoch verbunden mit anderen. Als Beziehungsmenschen brauchen wir die Gemeinschaft. Wir wollen seelisch und physisch in Kontakt sein. Fühlt man sich geborgen in dem Sinne, kann man auch gut alleine sein – Alleinsein ist etwas anderes als Einsamkeit. Jedoch leben wir mehr denn je in einer Welt, die uns das, was wir dringend brauchen, nicht mehr ausreichend gibt: Verbindung, Beziehung, Halt, Verlässlichkeit und körperliche Nähe. Dieses Leben im Widerspruch zu unserer Natur hat Auswirkungen auf unseren Geist, unsere Seele und unsere Psyche. Die Reaktionen mit Einsamkeit, Depression und anderen psychischen Erkrankungen sind, so kann man es auch sehen, eine vielleicht sogar eine «gesunde», Reaktion von vielen Menschen auf ein krank machendes System: Leistung und Performance, Flexibilität und Individualismus werden immer mehr verlangt. Ein System, das innert kurzer Zeit auch durch Digitalisierung und soziale Medien mehr Distanz zwischen uns geschaffen hat, fordert seinen Tribut. Denn Beziehungen, die weitgehend in der digitalen Welt stattfinden, können Beziehungen von «Körper zu Körper» nicht ersetzen.
Vor allem junge Menschen leiden zunehmend an Einsamkeitsgefühlen. Mit dem Einzug der Smartphones hat sich, so zeigen Studien aus den USA, die psychische Gesundheit von Teenager*innen seit 2010 rapide verschlechtert. Auch Studien anderer Länder zeigen ähnliche Resultate. Die Suizidrate der Zwölf- bis Vierzehnjährigen hat sich in den USA seit 2007 bis 2015 verdoppelt.
«Als Beziehungs-menschen brauchen wir die Gemeinschaft. Wir wollen seelisch und physisch in Kontakt sein.»
Digitales Lagerfeuer wärmt nicht
Das Jugendwort des Jahres 2020 war «lost» (Magazin «Herder Korrespondenz» 10/2021). Bei jungen Menschen mache sich eine Haltlosigkeit breit, meint die Autorin Diana Kinnert. In einem Video von NZZ Format erläutert sie einige Aspekte: Wir seien digitaler und individualistischer, was dazu führe, dass wir uns weniger begegneten und uns weniger geborgen fühlten. Dazu käme ein permanentes Gefühl des Ausgeliefertseins. Dies fördere, dass wir uns nicht mehr aufmachten, in echte, tiefe Beziehungen zu investieren. Unsere ideale Lebensform ist diese: Zu 99 Prozent der Menschheitsgeschichte, die vor gut 2 Millionen Jahren begann, fand das Leben in kleinen Gruppen als mobile Jäger*innen und Sammler*innen statt. Ein Leben in kleinen Gruppen, ständiger Austausch und Kontakt, – nur das sicherte unser Überleben. Das hat uns geprägt. Nicht zu unterschätzen ist sicher auch der desolate Zustand der Welt und unser Umgang damit. «Ihr habt die Verbindung zur Erde verloren und damit zu euch selbst», bringt es der Medizinmann der Lakota aus South Dakota auf den Punkt.
Soziale Medien fördern auch das Vergleichen mit anderen, was ein Erleben von Minderwertigkeit auslösen kann (andere leben besser als ich, sind schöner usw.). Für Diana Kinnert hat Einsamkeit vor allem auch mit Ohnmacht zu tun: Man fühle sich unsichtbar, habe den Eindruck, nichts gestalten zu können, man fühle sich übergangen und diskriminiert. So schreibt sie: «Ermächtigung bedeutet, sein Leben in der Hand zu haben, zu wissen, wie es morgen aussieht. Das geht verloren, wenn ich immer nur befristet angestellt bin oder bis nachts im Homeoffice E-Mails checken muss, weil ich Angst habe, sonst entlassen zu werden. Die Generation der Jungen wird ausgebeutet. Und sie sieht in ihrer Vereinzelung keine Möglichkeit, sich aufzulehnen oder sich empathisch mit anderen darüber zu unterhalten, ob es ihnen ähnlich geht oder ob es nur an einem selbst liegt.» Diese mindere soziale Qualität bei Beziehungen haltet sie für den wichtigsten Aspekt der jungen, modernen Einsamkeit.
«Einsamkeitsgefühle sind ein hilfreiches Zeichen, dass wir hungrig sind nach authentischer Verbundenheit, die wahrhaftig nährt.»
Zeige dich, verbinde dich
Für die Psychotherapeutin Christine Brähler führt auch die zunehmende Freiheit in unserer Gesellschaft bei vielen Menschen zu einem Einsamkeitserleben. «Es braucht soziale Kompetenzen, wie Selbsterkenntnis, Selbstregulation, Eigeninitiative und die Fähigkeit auf andere zugehen zu können, um mit dieser Freiheit gut umzugehen. Wenn ich die nicht habe, dann scheitere ich eher, fühle mich eher einsam. Leistungsdenken, Wettbewerb oder das dauernde Vergleichen schaffen ein Getrenntsein im Geist. Je mehr wir uns in diesem Denken bewegen, desto mehr kultivieren wir innerlich eher Getrenntsein als Verbundenheit», schreibt sie in ihrem Buch «Neue Wege aus der Einsamkeit. Mit Selbstmitgefühl zu mehr Verbundenheit finden». Einsamkeitsgefühle können uns also helfen – denn sie weisen uns darauf hin, dass uns etwas Wichtiges fehlt. Leider schämen sich viele Einsame für dieses Gefühl. Dabei trifft es bei weitem nicht nur Schüchterne, sondern gleichermassen auch aktive und gut vernetzte Menschen.
Einsamkeitsgefühle sind ein hilfreiches Zeichen. Wenn wir diesen mit freundlicher Haltung begegnen und als Anlass für Veränderung sehen, kann das eine positive Wendung anstossen. Für Christine Brähler sind diese Gefühle ein wichtiges Signal: «Die Einsamkeit ist nicht dein Feind, sondern eine Erinnerung daran, dass wir hungrig sind nach authentischer Verbundenheit, die wahrhaftig nährt. Wir berühren damit unsere Verletzlichkeit und Interdependenz.»
Sie rät, sich mit seiner inneren Einstellung in Bezug auf Kontakte zu befassen und diese zu verändern, aktiv dafür sorgen, dass wir das bekommen, was wir brauchen. (Siehe Kasten.) Zuneigung und Geborgenheit – das können auch nonverbale Signale sein, sanfte Berührungen, ein verständnisvolles Lächeln. Ein Gegenüber aus Fleisch und Blut. Dafür sollten wir auf individueller Ebene als auch auf gesellschaftlicher Ebene sorgen. Diverse Angebote wie neue Orte, Strukturen und Angebote, in denen Menschen aller Altersgruppen und Couleur zusammen kommen können für Interaktionen und Netzwerke können helfen.
Aus schmerzhafter Einsamkeit zu positivem Alleinsein
Doch ist die eigene innere Arbeit gleichermassen wichtig, um aus dem Dilemma des modernen Lebens herauszukommen. Das heisst, die Auseinandersetzung mit seinem Leben, seinen Beziehungen und deren Gestaltung. Denn die Qualität der Beziehungen zu anderen hoch zu halten oder zu erhöhen, bedeutet erst einmal, eine liebevolle Beziehung zu sich selbst herzustellen. Mehr Selbstliebe kann uns vor Einsamkeit schützen, so schreibt die Fachfrau für Selbstliebe Christine Brähler: «Die Fähigkeit, sich mit seinen Gefühlen, Gedanken und Bedürfnissen zu verbinden und zu wissen, dass es in uns selbst ein wohlwollendes Gegenüber gibt, das sich interessiert, ist das Merkmal von sicherer Bindung und Selbstregulation.» Dies könne uns helfen, aus schmerzhafter Einsamkeit positives und kreatives Alleinsein zu machen. Gut mit sich allein zu sein, ist erlernbar. Alleinsein kann eine Quelle der Kraft und Inspiration sein. Dafür braucht es jedoch ein stabiles Inneres, ein reiches Innenleben, aus dem geschöpft werden kann.
Lernen könne man, so Brähler, auch von den Menschen, die sich nicht einsam fühlten: Diese schlafen ausreichend, aber nicht zu viel. Sie haben genug, aber auch nicht zu viel Kontakt zur Familie. Sie gehen einer sinnvollen und bewältigbaren Tätigkeit nach und haben häufige persönliche Kontakte. Das Zusammenspiel dieser Komponenten kann uns schützen vor Isolation und Leere.
«Die Qualität der Beziehungen zu anderen hoch zu halten, bedeutet erst einmal, eine liebevolle Beziehung zu sich selbst herzustellen.»
Selbstfürsorge im Alltag
Der Weg aus der Einsamkeit zurück in die Verbundenheit ist lohnenswert, wenn auch nicht leicht. Es kann sinnvoll sein, sich Unterstützung zu holen. Die folgenden Fragen können Ansporn für erste Schritte aus der Einsamkeitsfalle sein:
- Was kann ich im Aussen tun, um mich verbundener zu fühlen?
- Gibt es für mich wichtige Menschen, die ich häufiger treffen könnte?
- Vertraue ich diesen Menschen wirklich?
- Und kann ich mit ihnen authentischer kommunizieren?
- Ist es möglich, meine Familie so oft zu sehen, wie ich es mir wünsche?
- Schlafe ich ausreichend und gut? Wenn nicht, was könnte ich für mehr Schlaf (oder auch weniger) tun?
- Kann ich meine Aufgaben bei der Arbeit und im Haushalt überschaubarer machen?
- Kann ich allenfalls sinnvollere Aufgaben suchen?
- Was hindert mich daran, es zu tun?
- Wer oder was könnte mich unterstützen?
Vielleicht gibt einige Dinge, die du umsetzen kannst. Und wenn das alles zu viel ist, es dich überfordert, dann lass dich so sein wie du gerade bist. Kehre später zu den Fragen zurück.