Auf der Suche nach der verlorenen Harmonie

Schamanismus ist ein vielfältig besetzter Begriff. Es ist spirituell aufgeladen, romantisch verklärt und auch zum Hoffnungsträger geworden, denn: die Welt ist aus den Fugen geraten und wir spüren alle, dass es einen neuen Umgang mit der Erde und mit uns selbst braucht. Immer mehr Menschen suchen die Antwort im Schamanismus – aber was ist das eigentlich?

Markus Kellenberger


Die Mosquitia ist das tropische Regenwaldgebiet von Honduras. Es ist das grösste in Zentralamerika, zehnmal so gross wie die Schweiz und besteht nur aus Sümpfen und Bäumen und weitgehend unerforschten Tempelruinen. «Mein Volk hat sie gebaut», sagt José Ducpan. «Wir wollten es den mächtigen Maja gleichtun.» Doch das habe den Geistern des Waldes nicht gefallen, und so «sind wir wieder zu unserer alten Lebensweise zurückgekehrt». José und seine acht Männer gehören zum Volk der Miskito, das als Fischer und Sammler an den Ufern des Rio Platano lebt. Vier Wochen sind wir in hölzernen Kanus auf diesem Fluss unterwegs, der sich in unendlichen Kurven durch das grüne Land schlängelt, und hier zeigen mir die Miskito die längst wieder vom Wald zurückeroberten Spuren ihrer Geschichte. Jeden Abend am Lagerfeuer machen wir ein kleines Ritual und danken singend und rasselnd den Geistern des Waldes für ihre Gastfreundschaft. An einem dieser Abende sagt José zu mir: «Ja, ihr könnt von uns lernen. Aber noch besser fragt ihr eure eigenen Geister und Ahnen, sie sagen euch, welchen Weg ihr gehen müsst, um wieder in Harmonie mit der Erde zu leben.»


Der Rhythmus der Maschinen
Das ist über 30 Jahre her und José lebt nicht mehr in dieser Welt. Doch seine Worte sind angesichts der sich laufend zuspitzenden Krisen wahrer denn je – aber zurück in die Wälder, wie das seine Vorfahren taten, können wir nicht mehr, dazu ist es längst zu spät. Seit nicht mehr der Rhythmus der Natur unser Leben bestimmt, sondern der immer schneller werdende Takt der Maschinen, ist vieles aus dem Lot geraten. Die Welt leidet und wir mit ihr, und so wächst die Sehnsucht nach einer harmonischen Verbindung mit der Erde, die wir beim Tanz um das goldene Kalb verloren haben. Diese harmonische Verbindung des Menschen mit sich selbst, mit der Erde und allen Pflanzen-, Tier-, Geist- und Menschwesen, das ist der Kern schamanischen Denkens – und das macht Schamanismus für Menschen aus der globalisierten und digitalisierten Konsumwelt so anziehend.

Schamanismus ist keine Religion, sondern der anerkannte Sammelbegriff für die spirituellen Vorstellungswelten, die sich in den unterschiedlichen Kulturen vieler indigener Völker spiegeln. Rund 5000 sind es, die sich bis heute allen Missionierungs- und Ausrottungsversuchen widersetzt und an ihren überlieferten Traditionen festgehalten haben. Darunter sind zum Beispiel die Völker der Yanomami, der Krenak und der Miskito im Süden Amerikas; der Navajos, Hopi und Ojibwe im Norden; der Inuit in der Arktis; der Tusken und Mongolen in Sibirien und Asien; der Penan und Mentawai auf Borneo und Sumatra; der Massai und der San in Afrika; der Aborigines in Australien und das der Samen im Norden Europas.

«Die Welt leidet und wir mit ihr, und so wächst die Sehnsucht nach einer harmonischen Verbindung mit der Erde.»



Die Reise in die Anderswelt
In einem wichtigen Punkt unterscheidet sich die Lebensweise dieser Völker massgeblich von der unsrigen: Sie plündern die Welt nicht aus. Sie haben die Verbindung zur Erde nie verloren und fühlen sich bis heute als deren Kinder, und alle Pflanzen und Tiere sind das in ihren Augen auch. Deshalb sind alle miteinander verwandt, und «Verwandte», sagt der brasilianische Umweltschützer Ailton Krenak, «beutet man nicht schamlos zum eigenen Nutzen aus.» Sein Volk ist das der Krenak, und wie alle indigenen Völker achtet es im Alltag darauf, mit der «Verwandtschaft» in einem guten Verhältnis zu stehen. Das heisst: Was immer das Volk der Krenak tut, das Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur muss bewahrt werden.

Bei vielen Indigenen sind für diese Aufgabe bis heute speziell ausgewählte und begabte  Schamaninnen und Schamanen zuständig. Sie sind die spirituellen Vermittler zwischen den Menschen, den Seelen der Ahnen und der Geister der Tiere, Pflanzen, Flüsse, Berge und der Elemente. Als solche sorgen sie dafür, dass die Anliegen aller Gehör finden und berücksichtigt werden. Dazu versetzen sich Schamaninnen und Schamanen in eine meditative oder wilde Trance, einen Zustand, den sie mit der Unterstützung verschiedener Techniken wie Trommeln, Rasseln, Gesang, Tanz und auch mit Hilfe psychoaktiver Pflanzen herbeiführen können. In diesem Trancezustand reist ihre Seele dann in die spirituelle Traum- oder Anderswelt, in der sich die guten und die bösen Geister aller Wesen begegnen und besprechen können, was es auszuhandeln gibt. Bei den meisten Völkern sind für solche «Seelenreisen» ausschliesslich Schamaninnen und Schamanen befähigt, bei einigen reist je nach Aufgabe im rituellen Rahmen der ganze Stamm in die Anderswelt.


«Das schamanische Erbe unserer Vorfahren beeinflusst unser Leben nicht nur in psychischer, sondern bis heute auch in kultureller Hinsicht.»



«Wir sind Mensch!» Das sagen die über 20 000 Jahre alten Handdrücke in einer Höhle in Spanien ebenso, wie die Hände, die heute vernehmbar für alles Lebendige die Trommel schlagen.





Das schamanische Erbe unserer Vorfahren
Schamanisches Denken und Handeln setzt also eines voraus: die feste Überzeugung, dass alles auf der Erde beseelt und in einer spirituellen Welt miteinander verbunden ist. Diese Art des Denkens ist das Erbe unserer Steinzeitmütter und -väter und hat sich über mehr als zwei Millionen Jahre hinweg tief in unserer Psyche verankert. Anthropologen wie der Holländer Carel van Schaik oder der letztes Jahr verstorbene Schweizer Psychologe und Schamanismusexperte Carlo Zumstein gehen davon aus, dass dieses Denken ein Teil unserer «Urnatur» ist, die sich bis heute im Glauben an das Wirken unterschiedlichster höherer Mächte zeigt, auch wenn wir diese aus «aufgeklärter» Perspektive manchmal lieber nur «das Schicksal» oder etwas religiöser einfach «die Schöpfung» nennen.

Aber Aufklärung hin oder her: Das Erbe unserer Vorfahren beeinflusst unser Leben nicht nur in psychischer, sondern bis heute auch in kultureller Hinsicht. Viele alte Märchen, Mythen und Sagen erzählen schamanisch geprägte Geschichten von Seelenreisen in andere Welten, wie zum Beispiel jene in das unterirdische Reich von Frau Holle. Doch nicht nur die Vorstellung der Seelenreise in eine Anderswelt ist es, die alle schamanischindigenen Kulturen weltweit verbindet und ihre Spuren bis in unseren Märchenschatz hinterlassen hat, auch die Dreiteilung der Welt gehört dazu. In vielen schamanischen oder aus dem Schamanischen hervorgegangenen Kulturen und Religionen steht symbolisch dafür der Baum. Ob er nun Yggdrasil genannt wird wie in der nordisch-germanischen Mythologie oder der Baum des Lebens und der Erkenntnis im Alten Testament: Seine Wurzeln bilden sowohl Ursprung als auch Unterwelt, wo die Schicksalskräfte der Schöpfung walten, der Stamm ist der Lebensraum der Menschen und die Krone ist das Reich der Geister und der Götter. Ähnliche Vorstellungen finden sich im Hinduismus, im Buddhismus und im Islam. Die christliche Kirche hat daraus Hölle, Erde und Himmelreich gemacht und die moderne Psychologie spricht vom Unbewussten, dem Bewussten und dem Über-Ich.


Der Wunsch nach einer heilen Welt
Man kann also guten Gewissens sagen: Unsere Welt ist durch und durch schamanisch geprägt und hat ihre Wurzeln in unserer Urnatur, die nach einer Harmonie des Menschen mit seiner ganzen Umgebung strebt. Und diese Harmonie ist in diesen Zeiten zunehmender und ausschliesslich von uns ausgelösten Kriegen und Krisen gestört. Immer mehr Menschen spüren das als diffuses Unwohlsein, als schlechtes Gewissen oder ein zunehmendes Gefühl der Entfremdung und fehlender Verbindung. Vielen wird bewusst, dass noch mehr Wohlstand auf Kosten der Erde nicht die Lösung für die von uns gemachten Probleme sein kann, und entsprechend wächst der Wunsch nach einer heilen und überschaubaren Welt und findet in der Rückbesinnung auf unsere schamanischen Ursprünge einen vertrauten Echoraum.

Dieses Bedürfnis ist nicht neu. In den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts, mitten im Kalten Krieg, der die Welt atomar zu vernichten drohte, und angesichts der ersten sich abzeichnenden Umweltprobleme, begründeten amerikanische Ethnologen und Anthropologen wie Carlos Castaneda und Michael Harner den Neoschamanismus. Diese moderne spirituelle Bewegung kombinierte traditionelle indigene Weltanschauungen und deren schamanische Rituale neu und machte sie für Menschen in westlichen Industrieländern verständlich und zugänglich.

Ausserdem führte der Neoschamanismus eine wesentliche Neuerung ein: Im Gegensatz zum traditionellen Schamanismus, in dem nur ausgewählte und jahrelang geschulte Menschen zu Seelenflügen in die Anderswelt befähigt sind, ist es im Neoschamanismus allen Menschen möglich, auf Seelenreise zu gehen und höhere Bewusstseinszustände zu erreichen. Mit anderen Worten:  neoschamanische Techniken können – entsprechendes Wissen, Übung und Begleitung vorausgesetzt – sowohl therapeutisch als auch zur Selbstverwirklichung und zur Selbsthilfe eingesetzt werden.


Räuchern ist ein bis heute bei vielen Menschen beliebtes Ritual. Seit tausenden von Jahren sollen damit böse Geister und schlechte Energien besänftigt oder vertrieben werden.


Ein neuer Umgang mit der Erde
In einer individualisierten Gesellschaft wie der unseren lösten diese Möglichkeiten  einen Boom aus, der bis heute anhält und immer mehr Menschen auf ihrer spiritueller Suche nach einem neuen Umgang mit der Welt und mit sich selbst anzieht. Mittlerweile gibt es unzählige Strömungen im Neoschamanismus. Einige betonen mehr die indigenen, andere mehr die keltischen und germanischen Mythen und Traditionen, wie das beispielsweise der deutsche Kulturanthropologe und Autor Wolf-Dieter Storl tut. Die Zahl an Büchern, Kursen, Seminaren, Festivals, Kongressen und allen möglichen Zubehör- und Heilangeboten rund um das Thema wächst von Jahr zu Jahr. Dazu kommen Ausbildungslehrgänge zur Schamanin und zum Schamanen in verschiedenen Instituten und Stiftungen in Europa und mittlerweile sogar direkt bei indigenen Völkern.  Von unseriös kommerziell bis ernsthaft spirituell ist alles dabei – doch wer sucht, der findet, und wenn nicht in einem dieser vielfältigen Angebote, dann sicher in sich drin. Unsere Urnatur weiss die Antwort auf die Frage, welcher Umgang mit der Welt und mit uns angebracht wäre.

Sollte ich Josés Geist einmal in der Anderswelt begegnen, ich bin sicher, er würde sagen: «Ich sehe, ihr fangt an von uns zu lernen – aber euer Weg zurück in die Harmonie hat erst begonnen.»


Die schamanische Trommel-Meditation
Schamaninnen und Schamanen versetzen sich in Trance, um in diesem Zustand mit der Geisterwelt, auch Traum- oder Anderswelt genannt, Kontakt aufnehmen zu können. Die wohl bekannteste Methode um sich oder auch andere Menschen in diese Trance zu versetzen, ist das Trommeln. In der Regel wird dazu eine einseitig mit einer Tierhaut bespannte Rahmentrommel benutzt, die mit der einen Hand gehalten und mit der anderen mit Hilfe eines Schlägers gespielt wird. Ersatzweise kommen oft auch Rasseln zum Einsatz.

Um in Trance zu geraten, spielen oder rasseln Schamaninnen und Schamanen weltweit denselben monotonen Rhythmus im Bereich von 240 bis 270 Schlägen pro Minute. Physikalisch ausgedrückt entspricht das einer Schwingungsfrequenz von 4 bis 4,5 Hertz – und die wiederum regt, was bei verschiedenen Studien durch Messungen mit Elektroenzephalogrammen (EEG) belegt wurde, im Hirn die sogenannten Theta-Wellen an.

Diese Theta-Wellen sind, das hat die Schlafforschung bewiesen, dann aktiv, wenn der Mensch träumt. Das heisst: monotones Trommeln im Rhythmus der Schamanen versetzt Menschen in einen Traum-Wach-Zustand. Das funktioniert bei den meisten Menschen problemlos und ohne Nebenwirkungen. In diesem Zustand sind psychische Barrieren leichter zu überwinden und je nach Vorbereitung, Übung und geschulter Begleitung schamanische Seelenflüge möglich, vor allem aber auch vertiefte Reisen in die eigene Innen- und Seelenwelt. Aus diesem Grund wird schamanisches Trommeln auch therapeutisch eingesetzt.


Schamanismus und Christentum
Um das Jahr 1100 herum hatte die von Rom aus gesteuerte Kirche fast überall in Europa gewonnen. Ihr neuer Glaube, das Christentum, hatte sich entlang der römischen Handels- und Militärstrassen verbreitet und weitgehend auch durchgesetzt. Auf dem Papier zumindest, denn in ihren Häusern und Höfen praktizierten viele Menschen weiterhin schamanische Rituale, die aus der keltischen und germanischen Glaubenswelt stammten. Zu tief war der Glaube an Seelen- und Geisterwesen in ihnen verankert, schliesslich gehört das zur «Urnatur» des Menschen (siehe Hauptartikel), und für sie war es kein Problem, ihre alten Rituale neben der neuen Religion zu leben. Als Franz von Assisi um das Jahr 1200 herum den Orden der Minderen Brüder gründete, war für ihn klar: auch Tiere sind die Kinder der Schöpfung und haben eine Seele, und darum predigte er auch ihnen. Der Heilige Franziskus integrierte seine schamanische «Urnatur» ebenfalls noch problemlos in die christliche Vorstellungswelt.

Den mächtigen Kirchenvätern war es indes schon länger suspekt, dass viele Menschen in ihrem Einflussbereich nicht auf ihre alten Glaubensvorstellungen verzichten wollten. Als Gegenmassnahme setzten sie deshalb ab Mitte des 13. Jahrhunderts die brutale Waffe der Inquisition ein gegen alle, die sich nicht wortgetreu an die Bibel hielten und sich nicht bedingungslos ihren Kirchengesetzen unterwarfen. Aus schamanischen Heilerinnen und Heilern wurden Hexen und Hexer und aus Naturgeistern Teufel gemacht, und wer sich gegen die Kirche auflehnte, galt als Ketzer. Fast siebenhundert Jahre lang dauerte dieses religiöse Terrorregime, dem hunderttausende von Menschen zum Opfer fielen.

Diese Zeiten sind zum Glück vorbei, und die Vorstellung, dass Schamanismus Teufelswerk sei, hält sich nur noch bei einigen Freikirchen und religiösen Fanatikerinnen und Fanatikern. Die römischkatholische Theologieprofessorin Marie-Therese Wacker ist sich sogar sicher, dass Jesus aus heutiger Sicht problemlos als prophetischschamanische Gestalt bezeichnet werden darf. Schliesslich kämpfte auch er wie alle Schamaninnen und Schamanen gegen böse Dämonen und heilte Kraft seines Geistes Kranke.


Buchempfehlungen
Piers Vitebsky: «Shamanism», University of Oklahoma Press, 2001 (auf Deutsch antiquarisch erhältlich)

Ailton Krenak: «Ideen um das Ende der Welt zu vertagen», Verlag BTB, 2021

Christian Rätsch, Roger Liggenstorfer: «Maria Sabina – Botin der heiligen Pilze», Nachtschatten, 2023

Wolf-Dieter Storl: «Naturrituale – mit schamanischen Ritualen zu den eigenen Wurzeln finden», AT Verlag, 2023

Carel van Schaik, Kai Michel: «Mensch sein – von der Evolution für die Zukunft lernen», Rowohlt, 2023

 

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