Alles unter einem Hut - Fliegenpilz

Kategorie: Gesundheit


Mythen und abstruse Geschichten ranken sich rund um den Fliegenpilz, den Pilz der Pilze. Nein, tödlich giftig ist er nicht; nur leicht toxisch. Im Laufe der Geschichte wurde – und wird – er für verschiedenste Therapien, als Lebens- und als Rauschmittel verwendet.












Es gibt kaum ein anderes Lebewesen, über das so viel fabuliert wurde und wird, wie den Fliegenpilz (Amanita muscaria). Ihn kennt jedes Kind. Er ziert Märchen und Weihnachtsgeschichten, dient als Motiv für Gemälde (Florian Haas’ «Maria mit dem Kinde» u. v. m.), CD- und Plattencover (z. B. Witthüser & Westrupp, «Der Jesuspilz»), gilt als Krötensitz und Heimstätte von Zwergen und Elfen und als Glückssymbol. So ist er auch auf Glückwunschkarten häufig zu finden. Den deutschen Ethnopharmakologen Christian Rätsch, Autor der «Enzyklo-pädie der psychoaktiven Pflanzen», überrascht das nicht: «Glück», schreibt er, «ist oft mit veränderten Bewusstseinszuständen assoziiert oder sogar damit identifiziert. Visionen und mystische Erfahrungen werden oft als Ursache oder Quelle des Glücks beschrieben.» Solches Glück kann der Fliegenpilz vermitteln.


Darauf kommen wir zurück. Doch wollen wir uns zuerst den abstrusen Geschichten und Theorien widmen, die sich rund um den Fliegenpilz ranken.

Kennen Sie den Begriff «Soma»? Soma wurde in der Rigveda (er zählt zu den wichtigsten vedischen Schriften) als «Fürst der Heilkräuter» und «Unsterblichkeitstrank» bezeichnet; es ist das irdische Gegenstück zu Amrita, dem Trank der Unsterblichkeit, der den Göttern im Himmel vorbehalten ist. Arische Stämme haben Soma vor 3500 Jahren als Rauschmittel mit dem Ziel der Erleuchtung genutzt. Dabei soll es sich um einen Auszug des Fliegenpilzes gehandelt haben, glaubte der US-amerikanische Ethnomykologe und Autor Robert Gordon Wasson (1898–1986).


Eine steile These. Es geht aber noch steiler: Der englische Philologe John M. Allegro (1923–1988), einer der Entzifferer der Schriftrollen vom Toten Meer und viele Jahre Dozent für Bibel-Studien an der Universität Manchester, glaubte, dass mit dem Wort «Jesus» in der Bibel kein Mensch gemeint sei; vielmehr sei «Jesus» ein Deckname für den Fliegenpilz. Und die Evangelien der Urchristen seien die verschlüsselte Lehre über den Kult rund um den heiligen Pilz. Dessen Anhänger sollen ihn rituell verspeist haben: «Dadurch wurden psychoaktive Pilze zum Ursprung unserer Religionen.» Seine These beschrieb Allegro in «Der Geheimkult des heiligen Pilzes». Dafür erntete er heftige Kritik von akademischer Seite, die ihm «hochtrabenden Unsinn» bescheinigte.






«   Deshalb haben wir Fliegenpilze -gesammelt. Die machen Bilder. Die zahlen die Zeit zurück. Die muss man mit Haupt und Pusteln in Scheiben schneiden, trocknen, zu Pulver stossen, das man an Süppchen, Kuchenteig, Sülze rührt.  »

Günter Grass, dt. Nobelpreisträger für Literatur, in «Der Butt» (1977)


Der Fliegenpilzrausch


Der Fliegenpilz ist eines der wichtigsten Reisemittel für Schamanen, um in andere Welten zu gelangen. Er ist weitaus weniger giftig, als gemeinhin angenommen wird. Verlässliche Angaben über die tödliche Dosis fehlen. Schätzungsweise liegt sie bei 100–300 g getrocknetem oder 1–3  kg -frischem Material. Die Potenz der Fliegenpilze ist sehr variabel.


Die Dosierung kann deshalb nicht mit Sicherheit angegeben werden; ausserdem reagieren Menschen unterschiedlich sensibel. Interessierte sollten sich also unbedingt langsam an die passende Dosis herantasten! Auf erowid.org sind folgende Angaben zu finden (bezogen auf komplett getrocknetes Hutmaterial): 1–5  g für eine leichte Rauschwirkung; für eine mittlere Wirkung etwa 5–10 g; für eine starke Wirkung etwa 10–30 g. Bei höheren Dosen kann es zu Krämpfen, Lähmungen und zum -Kollaps mit Kreislauf- und Atemstillstand kommen!


Die Wirkung setzt nach rund 30 Minuten ein, der Peak ist nach ein bis zwei Stunden zu erwarten; insgesamt dauert der Trip 5 bis 15 Stunden. Zum Verdampfen im Vaporizer benötigt man eine Temperatur von 175–200 °C.


Die Wirkung wird meist als traumhaft bzw. trance-ähnlich beschrieben, jedoch häufig auch als unangenehm empfunden. Nebenwirkungen wie Schwitzen, Kopfschmerzen, Übelkeit und Bauchkoliken treten indes meist nach dem Genuss von frischen Pilzen auf. Bei entsprechendem Setting kann Fliegenpilz auch enthemmend, euphorisierend und entspannend wirken; deshalb wurde er früher auch als Gesellschaftsdroge verwendet, ähnlich wie Alkohol. In der Regel beendet ein tiefer Schlaf mit lebhaften Träumen den Rausch.




Der Weihnachtsmann als Schamane

Offenbar sprengt der Fliegenpilz jegliche Grenzen der Fantasie. Nicht von ungefähr heisst es im ersten deutschsprachigen «Drogenbuch» «Die narkotischen Genussmittel» (1855): «Die Fantasie wird durch den Fliegenschwamm ähnlich angeregt, wie es beim Opium und Haschisch der Fall ist.» Das hat pharmakologische Gründe; doch dazu später mehr.


Bleiben wir vorerst bei den Mythen und Thesen. Auch Christian Rätsch hat eine sonderbare parat. In «Abgründige Weihnachten» schreibt er: «In Wirklichkeit feiern wir ein heidnisches Fest und der rot-weiss gekleidete Weihnachtsmann entpuppt sich als heimlicher Schamane und anthropomorpher Fliegenpilz.» Der magische Flug, die seltsamen Pilze, die Rentiere, der Ritt in fremde Welten und das Mitbringen von Gaben – all das habe der Weihnachtsmann mit Schamanen gemein. Als Erinnerung daran schmückten wir bis heute Christbäume mit Fliegenpilznippes. Und in Schweden dominieren zu Weihnachten nach wie vor die Farben rot und weiss – vom Christbaumschmuck über die Kerzen bis zur Serviette, alles in Anlehnung an den Fliegenpilz? Wer weiss. Zufall ist die Tradition der Schweden sicher nicht.


Bekannt ist, dass die Schamanen des Nordens den Fliegenpilz seit Äonen für ihre Riten nutzen. Etwa die Samen in Lappland und die Stämme der Ostyak, -Vogul oder Tschuktschen in Sibirien. Von ihnen stammt auch der Brauch des Urintrinkens: Da die aktiven Substanzen des Fliegenpilzes vom Organismus nicht resorbiert und über den Harn ausgeschieden werden, tranken die Menschen mancher Volksstämme den Urin des Schamanen, der sich zuvor eine grosse Menge Fliegenpilz einverleibt hatte. Bis zu fünf Mal soll der Urin weitergegeben worden sein. Auch Rentiere lechzen angeblich nach «Fliegenpilzurin»; und sie graben selbst im Schnee nach den Fruchtkörpern dieses ganz besonderen Pilzes – ob aus Lust am Rausch oder schlicht, weil er nahrhaft ist und schmeckt, wissen wohl nur die Schamanen.

Apropos: Christian Rätsch riet dem Autor dieses -Artikels einst an einem LSD-Symposium in Basel, den Fliegenpilz zu kosten – schliesslich handle es sich um die heilige Schamanendroge unserer Kultur.


«  Wir haben Soma getrunken, -unsterblich sind wir geworden, -gekommen sind wir zum Licht, -aufgefunden haben wir die Götter.   »

Rigveda VIII 48.3


Würz-, Lebens- und Rauschmittel

Bis zum Selbstversuch verstrichen viele Jahre. Der Respekt vor dem Fliegenpilz ist gross. Zurecht! Immerhin ist er leicht giftig (eine tödliche Vergiftung ist kaum möglich; eher kotzt man, als sich eine ernsthaft schädliche Menge einzuverleiben); zudem unterscheidet sich der durch ihn induzierte Rausch erheblich vom Rausch anderer, gängigerer Drogen wie Alkohol oder Cannabis. Und so kam er – gleichsam als Speisepilz – erstmal in die Pfanne. Mit Butter angebraten schmeckt Fliegenpilz überraschend gut. Allerdings stellte sich bald nach dem Verzehr nur eines Hutes leichtes Bauchgrummeln und Unwohlsein ein. Das hielt zwei, drei Stunden an, dann war mir wieder «vögeliwohl». Es stellte sich gar ein leicht euphorischer Zustand ein. Vielleicht auch nur, weil ich den Selbstversuch überlebt habe…


Ich bin eben kein Schamane! Und auch von Rauschwirkung keine Spur. Dummes Experiment? Nicht unbedingt. Ein Russe berichtete mir, dass er getrockneten Fliegenpilz über Salate und in Suppen streut; er ist überzeugt, dass dies sein Herz und Immunsystem stärkt. Tatsächlich wird der Fliegenpilz mancherorts als Speisepilz geschätzt. Etwa in Teilen Russlands oder in Japan. Es kommt eben auf die Zubereitung an: In Sibirien gilt der nach dem Abkochen (bis zu 30’) scharf gebratene Fliegenpilz als sehr wohlschmeckend und bekömmlich; auf der Insel wird er in Salzlake eingelegt. Auch das schwemmt die unbekömmlichen Wirkstoffe aus dem Schwamm.


Manche von denen sind für den rituellen Gebrauch gefragt. Auch bei den Hexen (bilden die Fruchtkörper des Fliegenpilzes einen Kreis, so spricht man von Hexen- oder auch Feen- und Elfenring. Von vielen Wesen wird der «magische Kreis» für Rituale genutzt). Sie, so heisst es, hätten den Fliegenpilz einverleibt, um in der anschliessenden Trance auf Astralreise zu gehen. Auch Neo-Schamanen und Psychonauten haben es auf die psychoaktive Wirkung des Fliegenpilzes abgesehen. Dazu muss man ihn zunächst trocknen. Denn beim Trocknen wandelt sich die Ibotensäure in das Alkaloid Muscimol um (ein sogenanntes Parasympathomimetikum), das hauptsächlich verantwortlich ist für den Rausch.

Der Fliegenpilz wird fast weltweit von Schamanen nicht nur pur verspeist, sondern auch mit Tabak vermischt als Rauchware benutzt. Oft wird lediglich die abgezogene rote Haut getrocknet und geraucht. Auch das führt zu Trance, Hellsichtigkeit und Wachträumen. Der Fliegenpilz, heisst es, birgt ganze Universen in sich. Wenn man ihn massvoll, mit Respekt und einer halluzinogenen Erwartung verspeist oder raucht, beschert er in der Regel angenehme Trancen und Träume. Von Albträumen wird kaum berichtet. Mitunter kommt es aber zu Übelkeit, Durchfall und Schwindel. Der starke Fliegenpilzrausch – vor dem ausdrücklich gewarnt sei! – verwirre die Sinne, heisst es in «Pflanzen der Götter» von Richard E. Schultes und Albert Hofmann: «Es treten Halluzinationen auf, begleitet von impulsiven Bewegungen und Krämpfen. Anfälle grosser Lebensfreude wechseln sich ab mit Augenblicken tiefer Depression.» Nicht gerade das, was man sich gemeinhin von einem Rausch verspricht.





Artname

Fliegenpilz



Ordnung Champignonartige (Agaricales)


Familie Wulstlinge (Amanitaceae)


Grösse Durchmesser des Hutes bis zu 15 cm; Stiel bis zu 20 cm lang


Saison Fruchtkörper (sichtbarer, oberirdischer Teil) von Sommer bis Herbst


Lebenserwartung viele Jahre (Myzel)


Ernährung Symbiose mit Bäumen wie Fichten und -Birken, die dem Pilz Zucker zur Verfügung stellen. Im Gegenzug versorgt der Fliegenpilz den Baum mit Nährstoffen wie Stickstoff oder Spurenelementen.


Lebensraum Wald (auch in Graslandgesellschaften), urbane Lebensräume (z. B. in Parks oder Gärten)


Inhaltsstoffe Ibotensäure, Muscimol, Muscarin, >30 Aminosäuren, div. Neurotransmitter, Saccharide, seltene Spurenelemente (u. a. Selen und Vanadium) u. v. m.


Quelle waldvielfalt.ch


Heilsames Therapeutikum

Der Fliegenpilz ist ohnehin viel mehr als Genuss- und Rauschmittel. Denn er hat auch heilsame Eigenschaften. So wurde und wird er auch in der westlichen Medizin als Therapeutikum genutzt. Paracelsus (1493–1541) verabreichte ihn bei Schwindsucht (Phthise), Diabetes und Würmern. Andere empfahlen den Fliegenpilz laut Siegfried G. Schäfer, Autor von «Die Dosis macht das Gift. Heilende Pflanzen im Spiegel der Geschichte» (siehe Buchtipp Seite 7) zur Reinigung von «Gehirn, Lunge, Brust, Magen ( . . . ) von zähem grobem Schleim, sowie bei Schwindel und oder Kopfschmerzen». Und auch bei rheumatischen Schmerzen und Epilepsie wurde er verordnet.


Eine besondere Stellung hat der Fliegenpilz bis heute in der Homöopathie. Dort ist er unter dem Namen «Agaricus» gelistet. Das Kombinationsmittel «PSY-stabil spag. Peka Tropfen» zum Beispiel, das unter anderem Fliegenpilzextrakt enthält, wird zur Behandlung von Erwartungs-, Prüfungs- und anderen Ängsten eingesetzt. Wichtige Indikationen für eine homöopathische Anwendung waren laut Schäfer auch Chorea Huntington (Veitstanz), vorzeitiger Samenerguss (Ejaculatio praecox), Hautjucken und Frostbeulen. «Weitere Indikationen», schreibt Schäfer, «waren Gehirnübermüdung, Augenzittern (Nystagmus) oder Multiple Sklerose.»


Heute wird der Fliegenpilz in der Homöopathie nicht nur zur Linderung von Ängsten, sondern auch von Schmerzen und Kältegefühl in Armen und Beinen sowie bei Zuckungen eingesetzt. Andere verordnen ihn bei Tripper, Multipler Sklerose oder Neuralgien. Als homöopathische Potenz kann der Pilz der Pilze auch Beschwerden der Wechseljahre, Übererregbarkeit und Blasen- und Darmkrämpfe lindern.

Wenn auch nicht gerade ein Unsterblichkeitsmittel, so ist der Fliegenpilz doch ein Therapeutikum. Wenn das keine fantastische Geschichte ist – ganz ohne steile These! //




Fotos: getty-images.com | unsplash.com |

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