Achtsam aus dem Tief

Kategorie: Gesundheit


Nicht nur die Veranlagung ist verantwortlich – auch Stress, Mobbing oder -Schicksalsschläge können eine Depression auslösen. Sie zählt zu den häufigsten und hinsichtlich ihrer Schwere vielfach unterschätzten Erkrankungen. Frauen sind häufiger betroffen als Männer, Junge öfters als Alte. Aber: Zur Behandlung braucht es längst nicht immer Medikamente.


«In meinem Leben gab es immer wieder längere Phasen, in denen mir alles sehr schwer fiel. Ich fühlte mich dann energielos und innerlich leer», erzählt Melanie Gerber (Name geändert). «Das Vorbereiten der Lektionen kostete mich jeweils viel Kraft. Meine Gedanken schweiften immer wieder ab, ich konnte mich nur schwer konzentrieren. Für die alltäglichen Arbeiten im Haushalt fehlt mir oft die Kraft.»


«Beim Gedanken, bald wieder vor einer Klasse stehen zu müssen, bekam ich Angstzustände.»

Die 48-jährige geschiedene Lehrerin hat oft nur das Allernötigste erledigt – und dabei ein schlechtes Gewissen gehabt, weil sie mehr von sich erwartete. Vor einem Jahr, gegen Ende der Schulferien, verschlimmerte sich ihr Zustand. «Ich fühlte mich überhaupt nicht erholt. Beim Gedanken, bald wieder vor einer Klasse stehen zu müssen, bekam ich Angstzustände. Nachts lag ich stundenlang wach und konnte an nichts anderes als an die Erwartungen der Eltern und der Schüler denken.» Nach einigem Zögern suchte sie den Hausarzt auf. Dieser schrieb Gerber krank und überwies sie zur Behandlung in eine psychiatrische Tagesklinik. Mittlerweile hat sie, vorerst in einem beschränkten Pensum, ihre Arbeit wieder aufgenommen.

Ein Teufelskreis

Eines der typischen Anzeichen für eine Depression ist die Furcht, die Anforderungen des Alltags kaum mehr bewältigen zu können. Selbst einfache Tätigkeiten erfordern grosse Überwindung und strengen enorm an. Die psychische Störung verringert zudem den Antrieb sowie die Merk- und Konzentrationsfähigkeit. Dies reduziert das ohnehin geschwächte Selbstvertrauen zusätzlich. Mit dem Tief verbundene Versagensängste und Schuldgefühle untergraben es weiter. Anhaltende Niedergeschlagenheit ist also ein destruktiver psychischer Prozess, der sich selber am Laufen hält. Es ist nicht leicht, die Mechanismen einer Depression aus eigener Kraft zu überwinden.

Da eine depressive Verstimmung nicht mit einer Röntgenaufnahme oder einer Laboruntersuchung nachweisbar ist, ist die Grenzziehung zwischen einer normalen Trauerreaktion und einer behandlungsbedürftigen Störung nicht einfach zu ziehen. Zudem treten die Beschwerden individuell unterschiedlich auf. Nicht immer ist eine anhaltend gedrückte Stimmung krankheitsbedingt; sie kann in bestimmten Lebenslagen auch eine ganz normale Reaktion sein.




Mittelmeerkost kann Depressionen -lindern

Eine mediterrane Ernährung mit viel Gemüse, Obst, Nüssen, Hülsenfrüchten und Vollkornprodukten zusammen mit Fischöl-Kapseln kann das psychische Wohlbefinden deutlich verbessern. Zu diesem Ergebnis kamen Forscher von der Universität Südaustralien in Adelaide. Bei ihren Probanden hatten Angst, Stress und negative Emotionen sowohl nach drei als auch nach sechs Monaten deutlich abgenommen. Gleichzeitig hatte sich die Lebensqualität der Teilnehmer spürbar verbessert. Im Vergleich zu einer Kontrollgruppe waren die Depressionswerte um 45 Prozent gesunken. Die Forscher vermuten, dass soziale Kontakte – etwa gemeinsam kochen und essen – die positiven psychischen Effekte der gesunden Ernährung noch verstärken. MM



Sich wichtig nehmen

Während einer Depression oder einer schwierigen Lebensphase verzerrt sich die Sicht auf die Wirklichkeit. Pessimismus, Schuldgefühle und Selbstkritik dominieren. Die entsprechenden Denkmuster wirken zermürbend. Auf folgende Weise können Betroffene deren destruktive Wirkung dämpfen:

● Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf Ihren Gedankenfluss. Unterbrechen Sie ihn, wenn er eine negative -Wendung nimmt, indem Sie sich auf Ihren Atem konzentrieren. Wenn Sie achtsam sind, merken Sie schnell, wenn Ihre Gedanken abschweifen. Das ist völlig in Ordnung und ganz normal. Konzentrieren Sie sich dann einfach wieder auf Ihren Atem.

● Halten Sie tagsüber mehrmals inne. Wie fühlen Sie sich gerade in diesem Moment? Diese Achtsamkeit sich selbst gegenüber bringt Sie näher zu ihren eigentlichen Bedürfnissen. Das hilft, Distanz zu den Ansprüchen anderer zu gewinnen.

● Notieren Sie jeden Abend vor dem Schlafengehen drei Erlebnisse, die für Sie tagsüber erfreulich waren. Dies kann ein stimmungsvoller Sonnenuntergang, ein freundlicher Zugbegleiter, ein Lied im Radio usw. sein.

● Schreiben Sie sich selber täglich ein aufmunterndes SMS oder eine liebevolle E-Mail.

Eine gedrückte Stimmung, fehlende Unternehmungslust, Schlafstörungen sowie das Bedürfnis nach Rückzug als Folge des Verlustes eines nahestehenden Menschen, eines Haustiers oder einer Arbeitsstelle ist nichts Ungewöhnliches. Im Gegenteil! In der Regel regelt sich die Gemütsverfassung nach einigen Wochen von selber wieder und die körperlichen Beschwerden lassen nach.

Im Gegensatz dazu halten Niedergeschlagenheit und andere Beschwerden bei einer Depression über längere Zeit an. Diese kann durch äussere Gründe ausgelöst werden, aber auch ohne erkennbaren Anlass auftreten. Die tieferen Ursachen sind vielfältig: Tageslichtdefizite im Winter sind ebenso mögliche Auslöser wie chronische Überforderung am Arbeitsplatz oder eine Sinnkrise nach der Pensionierung, um nur einige Beispiele zu nennen.

Verkaufsschlager Antidepressiva

Ab den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts erschienen immer neue Generationen von Medikamenten gegen Depressionen. Durch ihre Wirkung werden im Gehirn verschiedene Botenstoffe intensiver ausgeschüttet. In den letzten Jahren haben die Verschreibungen von Antidepressiva kontinuierlich zugenommen. Laut Statistik werden in der Schweiz jährlich zwischen 3,5 und 4 Millionen Packungen abgegeben. Damit ist die Einnahme innert zehn Jahren um rund eine Million Packungen gestiegen.

Die entsprechenden Medikamente werden vermehrt auch von Hausärzten verschrieben. Dies hat Kritiker auf den Plan gerufen. In einem Interview forderte kürzlich etwa der renommierte Zürcher Psychiatrieprofessor Daniel Hell, dass Langzeitbehandlungen mit Antidepressiva Psychiatern vorbehalten sein sollten. Noch immer sei die irrtümliche Annahme verbreitet, diese Medikamente würden die Ursachen einer Depression bekämpfen. «Tatsächlich aber lindern sie nur die Symptome.»

Für eine wirkungsvolle Behandlung sind regelmässige therapeutische Gespräche, ein Verhaltenstraining sowie das Forschen nach den Krankheitsauslösern entscheidend. Die Ursache für die Verstimmung liegt oft in den Lebensumständen der Patienten – und gegen diese wirken die Medikamente nun mal nicht.

Bei Depressionen ist das Wiederauftreten einer erneuten Krankheitsepisode relativ hoch: Sie liegt bei rund 80 Prozent. Inwieweit Antidepressiva Rückfälle verhindern können, ist in der Fachwelt sehr umstritten. Sicher ist: Mit jeder weiteren Phase steigt das Risiko neuerlicher Ausbrüche. Nach drei depressiven Episoden liegt das Risiko weiterer Störungen schon bei 90 Prozent!

Das Gedankenkarussell stoppen

Forschende haben nach Möglichkeiten gesucht, wie psychische Tiefs ohne chemische Präparate zu überwinden sind. Wie eine Auswertung verschiedener Studien ergab, wirkt moderat ausgeübter Sport ähnlich wirksam wie entsprechende Medikamente. Das Handicap ist dabei, dass Betroffene in einer depressiven Akutphase kaum genügend Antrieb für regelmässige Walkingrunden oder für Besuche von Schwimmbädern aufbringen. Nach dem Nachlassen der Symptome kann jedoch körperliche Betätigung die Genesung beschleunigen und Rückfällen entgegenwirken.

Wie die Forschung gezeigt hat, neigen zu Depressionen veranlagte Menschen zu negativen Denkmustern. Sie grübeln stundenlang über Nebensächlichkeiten oder längst zurückliegende Ereignisse. Auf diese Weise setzt eine fatale Abwärtsspirale ein, die Stimmung sinkt immer weiter. Wie die neuere Hirnforschung ergeben hat, verfestigen sich mit jeder weiteren depressiven Phase destruktive Muster in den Mikrostrukturen des Gehirns. Geringfügige Ereignisse im Alltag können sie aktivieren und eine Negativspirale auslösen. Um die Neigung zu depressiven Episoden zu verringern, müssen diese Automatismen im Denken gewandelt werden. In der Folge verändern sich auch die neuronalen Verbindungen im Gehirn. Trainingsprogramme wie MBCT (Mindfulness-Based Cognitive Therapy, zu Deutsch: Achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie) helfen, diese -destruktiven Denkmuster bewusst wahr-zunehmen und inneren Abstand zu ihnen zu gewinnen.

In Grossbritannien werden Antidepressiva mittlerweile hauptsächlich bei sehr ausgeprägten Krankheitsverläufen eingesetzt. Bei leichten und mittleren Depressionen übernehmen seit 2007 staatlich ausgebildete psychologische Gesundheitstherapeuten die Betreuung. Sie arbeiten mit computergestützter Verhaltenstherapie, mit angeleiteter Selbsthilfe und mit Bewegungsprogrammen. Wenn sich der Zustand nicht in angemessener Zeit verbessert, werden die Erkrankten kognitiven Verhaltenstherapeuten zugewiesen, die auch bei schwierigen Verläufen Erfolge erzielen können. Ein Erfolgsmodell, auch für die Schweiz? //











Buchtipps:


Patrizia Collard «Achtsamkeitsbasierte -Kognitive Therapie für -Dummies», Wiley-VCH 2014, ca. Fr. 28.–

Mark Williams, - Jon Kabat-Zinn u.a. «Der achtsame Weg durch die Depression», Arbor 2009, ca. Fr. 50.–

Diana Hochgräfe «Aus der Dunkelheit ins Licht. Mein Weg aus den -Depressionen», Tredition 2018, ca. Fr. 38.


Links

Vermittlung von Adressen von MBCT-Trainerinnen und –Trainern sowie von Kurs-angeboten: www.mbsr-verband.de

Unabhängige Beratung zu Fragen um psychische -Leiden: www.promentesana.ch


Fotos: unsplash.com/brunel johnson | istockphoto.com | unsplash.com/




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