4000 Wochen mit Sinn füllen

Wie soll man seine Lebenszeit sinnvoll nutzen? Die Frage geht tief. Jeder Mensch muss seine individuelle Antwort finden. Dazu braucht es Selbstreflexion und den Mut, sich selbst zu sein.

Lioba Schneemann


U
ns stehen rund 4000 Wochen zur Verfügung, rechnet man damit, durchschnittlich 78 Jahre alt zu werden. Was tun wir nur in dieser Zeit? Nutzen wir sie sinnvoll? Und, was heisst es, «sinnvoll» zu leben? Zugegeben – allein schon diese Fragen lassen meinen Stresslevel etwas steigen! Jetzt muss ich auch noch hier etwas tun – nämlich meine kostbare Lebenszeit mit Sinn und Zweck füllen, Tipps von Fachpersonen einholen, umsetzen – damit ich meine Zeit nicht arg sinnlos verstreichen lasse.

Natürlich ist die Frage nach dem Lebenssinn wichtig, und sie ist menschlich. Jedoch besteht die Gefahr, wieder im Aussen-orientiert-Sein zu landen und im Tun-Modus. Und somit kommen wir wieder gar nicht dazu, in Ruhe tiefer darüber nachzudenken, was unser ureigenster Sinn hier auf Erden sein könnte.

 


Nutze die Zeit!?

Beginnen wir einmal mit der Definition von Sinn. Ist synonym auch «Zweck» oder «Ziel» gemeint? Das Lexikon definiert «Sinn» derart: «Fähigkeit der Wahrnehmung und Empfindung, die in den Sinnesorganen ihren Sitz hat» und «Gefühl, Verständnis für etwas, innere Beziehung zu etwas». Andernorts wird definiert, dass Sinn «laufendes Aktualisieren von Möglichkeiten» sei. Der Wissenschaftsautor und Systemanalytiker Jürgen Beetz (in Wikipedia zitiert) unterscheidet die Begriffswelt so: «‹Sinn und Zweck›, das wird oft zusammen gebraucht. Ziel ist fern, Zweck ist nah. Sinn ist tief, Zweck ist flach. Ziel ist erreichbar, Sinn nicht. Sex im Alter ist zwecklos, aber nicht sinnlos. Sinn ist ein Füllstand in einem Gefäss – ein ›erfülltes Leben›, sagt man.» Die Suche nach dem Sinn ist ein zentraler Aspekt des Menschseins. Im Aussen jedoch ist er nicht zu finden, wir müssen uns nach innen wenden.

«Indem ich mich bewusst für etwas entscheide, steigt der Wert dieser Entscheidung.»


Die Tipps, die wir im Internet und bei vielen Autorinnen und Coaches finden, sind gut gemeint, aber greifen doch zu kurz. Da wird geraten, sich mit Zeitmanagement zu befassen zur effizienteren Nutzung der Lebenszeit, dazu, Zeit mit Qualität zu verbinden. Da wird mit Worten umhergeworfen, wie investieren, nutzen, engagieren, steigern. Erinnert doch stark an Arbeit und nicht gerad an freudig-sinnvolles Leben.

Viele sind überzeugt, dass man vor allem in ehrenamtlichen Tätigkeiten Sinn finden kann: Indem man sich bei der freiwilligen Feuerwehr engagiert, sich ehrenamtlich im Bereich Naturschutz einsetzt oder nachmittags im Altersheim oder in einer Schule aushilft. Das sei besonders sinnstiftend, und es ist tatsächlich belegt, dass es gut tut, anderen zu helfen, es den Menschen Sinn gibt, auch, weil es der Gesellschaft zugute kommt. Tatsächlich sind Menschen, vor allem Senior*innen, die sich sozial engagieren, glücklicher, gesünder und verkraften Stress besser, wie eine Studie von Arbeitspsychologinnen der Universität Konstanz aus dem Jahr 2010 zeigte. Allerdings kann es auch anders herauskommen: So ist die Pflege von Menschen mitunter sehr belastend. 

 

Andere Stimmen gibt es auch: Seine Zeit zu vertreiben und auf Dinge zu verzichten, kann Sinn machen, sagt der Journalist Oliver Burkeman. Er rät in seinem Buch über Zeitmanagement zu gelassenem Zeitvertreib und lustvollem Verzicht. Gerade die Tatsache, dass wir nicht überall dabei sein könnten und darum notgedrungen viel verpassten, offenbare den Reichtum des Lebens. Indem ich mich bewusst für etwas entscheide und mit dem Wissen, dass ich andere Dinge dann verpasse, steigere den Wert dieser Entscheidung. Das wiederum macht froh und wird als sinnvoll erlebt. Nicht nur er plädiert darum, sich auf seine Werte zu konzentrieren und auch die Unvollkommenheit zu akzeptieren. Sonst geraten wir wieder in die Fallen von Produktivitätsstreben und Optimierungswahn – was uns nicht glücklich macht und sowieso keinen Sinn macht. Mehr von unseren Wundern zu leben, schlägt Burkeman weiter vor. Sich fragen, ob man ein Leben lebt, das seinen Wünschen und Träumen entspricht. Der eigentliche Sinn all unseres hektischen Tuns könnte darin bestehen, mehr von diesen Wundern zu erleben.

Sei du selbst

Der Weg zum Sinn, so sagen uns Philosophen und Wissenschaftlerinnen aller Couleur schon längst, gehe nur über Spiritualität. Der Begriff «spiritus» steht für Geist, Seele, Atem, Hauch. Spiritualität ist die bewusste Beziehung zu uns selbst und zur Welt – angefangen beim Umgang mit unserem Körper und Geist, bis hin zu dem, wie wir atmen, essen, stehen und gehen. 

Mit dem Begriff Spiritualität wird, so eine weitere Definition, eine nach Sinn und Bedeutung suchende Lebenseinstellung bezeichnet, bei der sich der Mensch seines göttlichen Ursprungs bewusst ist, und eine Verbundenheit mit anderen, mit der Natur sowie dem Göttlichen und dem Universum spürt. Dieses Bewusstsein führt dazu, sich mit Lehren, Erfahrungen oder Einsichten zu befassen, was sich auf die Lebensführung und die ethischen Vorstellungen auswirkt. Heute wird Spiritualität mehr und mehr ohne Gottesbezug aufgefasst. Der Dalai Lama bezeichnet die grundlegenden menschlichen Werte, wie Güte, Freundlichkeit und Mitgefühl als Grundspiritualität.

In Japan gibt es das Konzept «Ikigai», was soviel wie Lebenssinn bedeutet, und das Streben nach dem erfüllten Leben beschreibt. Ikigai geht davon aus, dass jeder Mensch eine einzigartige Kombination aus Leidenschaften, Fähigkeiten, Bedürfnissen und Werten hat oder braucht, die den individuellen Lebenssinn ausmachen. Wenn es nun darum geht, seine eigene Kombination zu finden für seinen persönlichen Sinn im Leben, heisst das, dass wir uns kennen sollten. Was liebe ich? Wofür stehe ich morgens auf? Was ist mir wirklich wichtig, und was nicht, egal, was andere sagen? Das benötigt wiederum das Wagnis, sich selbst zu sein. Es erfordert, mit sich selbst wirklich in Kontakt zu sein. Es braucht weiterhin Selbstliebe, Reflexion, Geduld, Ausdauer und den Mut, Risiken einzugehen. Raus aus der Komfortzone für Veränderung – aber das ist eigentlich immer gut.

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