Wohin nur mit all der Wut?
Wut hat eine gewaltige Kraft. Wer sie unterdrückt, bekommt das ebenso zu spüren wie wer ihr freien Lauf lässt. Beides hat Konsequenzen. Doch wohin mit all der Wut? Es gibt Möglichkeiten, die Kraft der Wut in Bahnen zu lenken, die nicht krank machen.
Markus Kellenberger
Einmal richtig auf den Tisch hauen, wenn genug Heu unten ist, oder mal jemandem resolut die Leviten lesen, weil es nötig ist, das alles ist kein Problem, wenn es trotz des Ärgers mit dem nötigen Respekt geschieht. Aber vor lauter Wut einfach ausrasten, rumtoben, brüllen, beschimpfen, bedrohen, beleidigen und vielleicht auch noch Gegenstände in der Gegend herum pfeffern – das geht gar nicht, denn Wut hat, wie der als Buchautor tätige Neurologe und Wutforscher Giovanni Frazzetto schreibt, immer auch moralische Konsequenzen. Wer seiner Wut nachgebe, sagt er, müsse damit rechnen, dass dies Folgen hat und dass seine Beziehung zu anderen Menschen Schaden nimmt. Konkret: Ein Wutausbruch kann einen den Job kosten, die Ehe und die Zuneigung der Kinder. Und das will wirklich niemand.
Wie aber kommt es zu einer solchen Kurzschlusshandlung, die den Verstand ohne Abwägung der Konsequenzen völlig ausschaltet? Die Antwort darauf ist erschütternd simpel: Es ist nicht mehr zu bewältigender Stress, aufgestaut aus einer Vielzahl von Komponenten wie Überforderung, Kritik von aussen, Neid, Zurückweisung und letztlich einem vermeintlich völligen Kontrollverlust über das eigene Leben. Eine solche emotionale Notlage baut sich über Monate, manchmal auch über Jahre hinweg auf. Erste Warnsignale dafür, dass sich da ein Sturm zusammenbraut, werden übergangen, kleingeredet, verdrängt oder mit Alkohol und Beruhigungsmitteln gedämpft – bis es nicht mehr geht. Eine herumliegende Socke kann dann der Funke sein, der das Pulverfass in die Luft jagt.
Explodierer und Implodierer
Psychologinnen und Psychologen teilen gefährdete Menschen in zwei Gruppen ein: die Explodierer, in der Mehrheit sind das Männer, die ihre Wut nach aussen tragen, und die Implodierer, mehrheitlich Frauen, die alles in sich hinein fressen und in einer Depression versinken. Keines von beiden Mustern ist gesund und Schaden nehmen nicht nur die betroffenen Menschen, sondern auch ihr Umfeld. Oberflächlich betrachtet, könnte man meinen, dass die Explodierer gegenüber den Implodierern im Vorteil sind, weil sie ja «Dampf ablassen» – aber dem ist nicht so. «Ein Wutausbruch befreit nicht, denn paradoxerweise kommt dabei oft noch mehr Wut hoch», erklärt Sven Barnow, der sich an der Universität Heidelberg mit Emotionsforschung befasst. Ähnlich ergeht es jenen, die keinen «Dampf ablassen» können. Ihre im Inneren wachsende Wut treibt sie nur noch mehr in die Düsternis des seelischen Rückzugs. Beide Verhaltensmuster enden letztlich in der Selbstzerstörung.
Grundsätzlich gilt: es ist in Ordnung, Ärger zu empfinden und auch mal wütend zu sein, aber es ist nicht in Ordnung, anderen Menschen mit Wutausbrüchen oder dem Rückzug in eine Depression Leid anzutun und sich selbst auch. So entsteht ein Teufelskreis, der kaum mehr aus eigener Kraft durchbrochen werden kann und der am Ende bei allen Beteiligten nicht mehr wieder gut zu machende Schäden hinterlässt.
Handeln statt grübeln
Was es braucht, um einen solchen Teufelskreis zu durchbrechen, ist ein im besten Fall begleitetes Trainingsprogramm, bei dem Betroffene einen neuen Umgang mit ihren Gefühlen lernen. Dazu gehört auch eine Reise in die Vergangenheit, denn «viele Menschen haben in ihrer Kindheit zu wenig Respekt und Anerkennung erfahren», sagt Liv Larsson, «und ihre nach aussen oder innen gerichtete Wut ist ein verzweifelter Ausdruck ihrer Sehnsucht danach». Die Schwedin gilt als Spezialistin für gewaltfreie Kommunikation. «Wut», fährt sie fort, «hängt eng mit alten Scham- und Schuldgefühlen zusammen.» Und genau dort müsse man für eine erfolgreiche Verhaltensänderung ansetzen, doch das gehe nicht von heute auf morgen.
Eine Verhaltensänderung braucht also Zeit. Folgende drei Sofortmassnahmen können bei drohenden inneren und äusseren Wutausbrüchen aber auch schon mal für Entspannung sorgen:
1. Langsam aus dem Bauch heraus atmen. Wenn Sie wütend werden, wird Ihre Atmung flach und schnell. Achten Sie darauf und beginnen Sie, bewusst langsam und aus dem Bauch heraus zu atmen. Sagen Sie dazu ein Mantra auf wie «ich werde ruhig». Üben Sie das in Zeiten ohne grosse Wut.
2. Wutauslöser erkennen. Nehmen Sie sich die Zeit und schreiben Sie die möglichen Auslöser für Ihre Wut auf. So beginnt die erste vertiefte Auseinandersetzung mit dem Thema. Besprechen Sie diese Themen in Ihrer Beziehung oder mit einem vertrauten Menschen – aber in einer ruhigen Minute!
3. Gehen Sie in den Wald. Oder gehen Sie in den Keller, je nach dem, was für Sie besser passt, und schreien Sie Ihre Wut heraus. Toben Sie sich bis zur Erschöpfung aus, ohne jemanden zu verletzen – und nehmen Sie sich danach selbst in den Arm.
Letzteres, nämlich sich selbst wohlwollend zu trösten, ist wichtig. Oder wie es der Psychologe Sven Barnow sagt: «Seien Sie freundlicher zu sich selbst und vermeiden Sie ewiges Grübeln.» Gerade Grübeln sei bei emotionalem Stress problematisch, weil man so die ganze erfahrene Wut, Scham und Schuld immer wieder wie in einer Endlosschlaufe durchlebe (siehe «natürlich» 07/08-24). «Das verlängert nur die seelische Not – und das ist nicht nötig.»
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«Wut-Management – nie wieder explodieren», ZP Publishing, 2023
Christoph Augner:
«Wut ist auch keine Lösung», Verlag Humboldt, 2022
Liv Larsson:
«Wut, Schuld und Scham – drei Seiten der gleichen Medaille», Verlag Jungfermann, 2012
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Markus Kellenberger begleitet Menschen auf der Reise ins Innere und beantwortet Ihre Fragen aus den Bereichen Leben, Liebe, Glaube und Spiritualität persönlich und ganzheitlich. m.kellenberger@weberverlag.ch