Und weiter geht´s mit der sexuellen Revolution

Wäre Sex ein ganz normales Thema wie Essen und Trinken würden Sie diesen Text vielleicht gar nicht lesen. Aber wir sind Menschen und unsere Sexualität ist nun mal ein heisses Eisen, das kaum jemanden kalt lässt. Für die einen stellt sich hier sofort die Frage nach Sitte und Moral, für andere die nach einem selbstbestimmten Liebesleben.

Markus Kellenberger


Die Frage, die Paul McCartney 1968 kehlig singend stellte, war provokant: «Why don’t we do it in the road?» Die Antwort darauf liess zwei Jahre auf sich warten, denn sie kam aus Bern. Sie lautete: «Will mir Hemmige hei!» Mit dem ihm eigenen tiefsinnigen Humor brachte Mani Matter in wenigen Versen auf den Punkt, wozu andere erst jahrelange Studien betreiben und unzählige Bücher verfassen mussten. Daran hat sich bis heute kaum etwas geändert, denn wenn es um Sex und Sexualität geht, dann geht beim Menschen immer irgendwie die Post ab.

So natürlich Sex auch sein mag – wir haben etwas sehr kompliziertes daraus gemacht. Denn wäre Sex einfach Sex, dann ginge es uns damit wie unseren nächsten Verwandten, den friedfertigen Bonobos. Die gehen mit der natürlichsten Nebensache der Welt völlig locker um. Sex dient nämlich nicht nur der Fortpflanzung, sondern macht vor allem auch Spass, verbindet, entspannt und verhindert Streit in der Gruppe – und deshalb treiben es die kleinen Schimpansen so häufig wie nur möglich und gern auch in wechselnder Besetzung, gegenseitiges Einverständnis vorausgesetzt. Ähnlich machten es unsere jagenden und sammelnden Vorfahren, bevor sie vor rund 6000 Jahren in die – wie es unter anderen der Anthropologe Carel van Schaik nennt – «Sesshaftigkeitsfalle» tappten. Von da an war fertig mit lustig.


Sitte und Moral als Machtinstrument

Die neue Lebensart ermöglichte es den Menschen erstmals in ihrer Geschichte Besitz anzusammeln, und bald kam es den Männern in den Sinn, dass dazu auch die Frauen zählen. Im Nu war das Patriarchat geboren und beendete die zuvor hunderttausende von Generationen währende und gleichberechtigte Freiheit von Liebe und Sex. Um die neue Vormachtstellung der Männer zu festigen und um den Frauen deutlich zu machen, wer ab jetzt das Sagen und mit wem sie ihr Bett zu teilen hatten, wurden sicherheitshalber mit kirchlichem Nachdruck Sitten- und Moralgesetze erlassen, die bis heute nachwirken.

Nun bestimmten nicht mehr die Menschen über ihre Sexualität und mit wem sie die teilen möchten, sondern Religion und Staat legten jetzt fest, was in Bezug auf Körperlichkeit und Liebe richtig und was falsch, was erlaubt und was widernatürlich sei. Sesshaftigkeit, Patriarchat und die ebenfalls männerdominierte Kirche schufen so eine «Normalität», die eigentlich keine ist, und die deshalb im Widerspruch zur Urnatur des Menschen steht, der übrigens auch die Gleichgeschlechtlichkeit nie fremd war.


Für immer und ewig ist nicht für alle

Wie sehr kulturell aufdoktrinierte Moralvorstellungen und die Urnatur im Dauerclinch liegen, zeigt sich allein schon in der Scheidungsquote. Wäre der Mensch tatsächlich für die lebenslange Ehe geschaffen, würde sich niemand scheiden lassen, und wäre Sex ausschliesslich eine Sache zwischen Eheleuten, respektive Mann und Frau, dann gäbe es weder Seitensprünge noch Prostitution und Tinder, Grindr und Co. wären überflüssig. Dem ist aber nicht so – und das nicht etwa weil der Mensch «sündhaft» ist wie ihm gerne unterstellt wird, sondern ganz einfach deshalb, weil in seinem Inneren Lust und Liebe schon immer frei und wild waren, lange bevor «Sitte und Moral» als patriarchale Leitplanken erfunden wurden.

Auch wenn die sexuelle Revolution mittlerweile rund 50 Jahre zurückliegt und einiges verändert hat: Als richtig und erstrebenswert angesehen, gilt noch immer das lange als das einzig wahre hochgehaltene «Amefi»-Prinzip, wie es der auch als Buchautor bekannte Paar- und Sexualtherapeut Michael Mary nennt. Amefi ist die Abkürzung für: Alles mit einer/einem für immer! «Das mag für einige von uns stimmen», sagt Mary, «aber längst nicht für alle.» Bis ans Ende der Tage alle Bedürfnisse eines einzigen Partners abdecken zu wollen, ist gut gemeint, in der Regel aber zum scheitern verurteilt. Das gilt auch für den Tabubereich Paarsexualität. «Auf Dauer überfordert das die meisten von uns», so Mary.


Die neuen Hippies mit dem *

Hoffnung darauf, dass die sexuelle Revolution, die etwas im pornografischen steckengeblieben ist, weitergeht, macht aktuell die Genderbewegung. Ihr geht es nämlich um weit mehr als den berühmten *. Sie bricht mit jugendlicher Kraft die uns auferlegten und als «normal» verkauften Geschlechter- und Rollenbilder weiter auf, als es die 68er-Hippies geschafft haben. Viel zu lange wurde die menschliche Sexualität reguliert und den Menschen vorgeschrieben, wie sie ihr Liebesleben zu organisieren hatten. Dabei ist es allen selbst überlassen, nach ihrer Façon glücklich zu werden. Regeln und Gesetze braucht es nur dort, wo die Freiheit und Integrität anderer berührt werden und alte Diskriminierungen aus der Welt zu räumen sind.

Auch wenn nun einige fürchten, dass deshalb bald Zustände wie in Sodom und Gomorrha herrschen werden – unsere Urnatur wird das nicht zulassen. Die Paarbeziehung wird weiter eine grosse Rolle spielen, und um auf Paul McCartney und Mani Matter zurückzukommen: Wir werden es bei aller sexuellen Freiheit nicht auf der Strasse treiben, eben weil wir Hemmungen haben. Auch da sind wir den Bonobos sehr nahe. Liebe, Lust und Sinnlichkeit tauschen auch sie am liebsten zu zweit und unter Ausschluss der Öffentlichkeit aus, in ihrem Fall heisst das: hinter dem Gebüsch.

 

 

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Markus Kellenberger begleitet Menschen auf der Reise ins Innere und beantwortet Ihre Fragen aus den Bereichen Leben, Liebe, Glaube und Spiritualität persönlich und ganzheitlich. m.kellenberger@weberverlag.ch

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