Die Kraft der Vergebung
Jemandem oder sich selbst für einen begangenen, schweren Fehler zu vergeben, fällt nicht leicht. Doch die Mühe lohnt sich, denn: Wer vergibt, lässt die erlittene Kränkung oder die empfundene Scham hinter sich – und erlebt eine neue Freiheit.
Markus Kellenberger
«Alles neu macht der Mai, macht die Seele frisch und frei …», heisst es so schön in einem alten Lied. Und ja, der in Vollblüte stehende Frühling wäre doch die richtige Zeit, um sich von alten, nie wirklich ad acta gelegten seelischen Verletzungen zu verabschieden, und die Seele wieder frisch und frei zu machen. Wir alle schleppen solche nie geheilten Wunden in Form eines Vertrauensbruchs, einer Herabsetzung oder eines anderen als Unrecht empfundenen Erlebnisses mit uns herum, oft verursacht vom Liebespartner, der Familie, von Vorgesetzten und Freunden. Sicher, wenn rundherum alles vor lauter Lebenskraft nur so strotzt wie jetzt, denken wir selten an diese alten oder auch neueren Geschichten. Aber in den Stunden, in denen wir nachts wach liegen, tauchen sie wie Dämonen oft wieder auf und plagen uns, und werden das immer wieder auch tun, solange wir nicht vergeben können. Und zwar jenen, die uns so tief gekränkt haben, und uns selbst, weil wir so lange nicht davon loslassen konnten. Doch alle von uns können im Grunde selbst entscheiden, wie lange erlittenes Unrecht unser Leben bestimmen soll.
Vergeben können ist ein äusserst heilsamer Prozess. Das wussten bereits Buddha und Jesus, denen verzeihen und vergeben zur Erlangung des Seelenheils immer ein zentrales Anliegen war, und das wissen wir selbst eigentlich auch. Rachegelüste, die oft mit erlittenen Kränkungen einhergehen, haben kaum je zum Ziel geführt, echte Vergebung hingegen schon. Doch warum fällt uns das so schwer? «Weil wir fürchten, die Person, die uns verletzt hat, mit der Vergebung zu belohnen », sagt Doris Wolf, Psychologin und Autorin mehrerer Selbsthilfebücher, dazu. Tatsache aber ist: Wer nicht vergeben kann und tiefe Verletzungen in sich hineinfrisst, bestraft in erster Linie sich selbst, und bekommt das im schlimmsten Fall als Depression zu spüren.
Anderen Menschen vergeben
Eine Kränkung bleibt so lange eine Kränkung, bis sie verziehen und vergeben werden kann. Der Weg dorthin ist anspruchsvoll und schmerzhaft und braucht Zeit, ist letztlich aber lohnenswert und befreiend. Hier ist die Checkliste für erfolgreiches Vergeben:
Fassen Sie den Entschluss zur Vergebung: Um aus alten Verstrickungen, unterdrückter Wut, Zorn und Hass herauszufinden, braucht es Ihren klaren Entscheid, diese «ewige Wunde» nicht mehr weiter schwären zu lassen. Durchleben Sie die Kränkung nochmals bewusst: mit genügend Distanz und dem Willen, die alte Geschichte zu beenden, lässt sich das Geschehene aus einer neuen Perspektive betrachten.
Diese Fragen helfen: Was genau ist geschehen; warum hat mich das dermassen gekränkt, was habe ich davon, an dieser Kränkung festzuhalten, respektive, was ist mein Gewinn, wenn ich sie loslasse?
Entwickeln Sie ein Verständnis für die Person, die Ihnen Leid zugefügt hat: Jetzt kommt der vielleicht schwierigste Teil des Vergebungsprozesses – nämlich zu verstehen, in welcher Situation sich der Mensch befand oder befindet, der Sie verletzt und gekränkt hat. Es geht hier nicht darum, die Tat zu entschuldigen, sondern zu lernen, das Widerfahrene als unumkehrbar zu sehen – und auf sinnlose Rachegefühle zu verzichten.
Das Geschehene akzeptieren und vergeben: Nach dem Durchleben der ersten drei Schritte kommt jetzt das Verinnerlichen der Erkenntnis, dass es gut tut, schmerzliche Gefühle und Verhaltensweisen loszulassen und durch Mitgefühl, Grosszügigkeit und Wohlwollen zu ersetzen. Vergeben Sie dem Menschen, der Sie verletzt hat. Das können Sie still für sich tun oder mit einem klärenden Gespräch.
Sich selbst vergeben
Anderen Menschen zu vergeben, ist eine schwierige, aber keine unmögliche Kunst. Das gilt auch für die Selbstvergebung, denn manchmal ist man selbst die Person, die absichtlich oder unabsichtlich jemanden seelisch verletzt hat. Viele Menschen machen sich täglich Vorwürfe wegen gemachten Fehlern, was in ewigem Grübeln und sogar in einer Depression enden kann. Also am besten aufhören damit. Hier sind es drei Schritte, die zur Selbstvergebung führen:
- Sich dem stellen, was man getan hat oder was aufgrund des eigenen Unterlassens passiert ist, ist der erste und für viele Menschen auch der schwierigste Schritt.
- Die Verantwortung für das eigene Tun übernehmen, und auch die unangenehmen Gefühle wie Schuld, Scham, aber auch Wut und Trauer zuzulassen und anzunehmen. Denn ohne diese Gefühle und die daraus resultierende Reue lernt man nichts dazu.
- Mit der Wiedergutmachung kann das erschütternde Erlebnis wieder ins Gleichgewicht gebracht werden. Wiedergutmachung heisst in diesem Falle nicht nur, sich bei der betroffenen Person in aller Form zu entschuldigen, sondern sich selbst den gemachten Fehler zu vergeben. Wir alle sind Menschen – und Fehler zu machen gehört zum Leben.
Rituale können den Vergebungsprozess gegenüber anderen oder sich selbst unterstützen. Das müssen keine grossen oder aufwändigen Zeremonien sein. Ein gutes Beispiel für ein solches Ritual ist das Entzünden einer Kerze oder das Schreiben des Grundes für die Vergebung auf ein Blatt Papier – um es danach an einem sicheren Ort zu verbrennen. Bei schwerwiegenden und sehr belastenden Konflikten kann es sinnvoll sein, ein solches Ritual zusammen mit einem Menschen seines Vertrauens durchzuführen. Wichtig ist dabei nur eins: mit dem Herzen vergeben – das macht die Seele frisch und frei.
Buchempfehlungen
Doris Wolf: «Ab heute kränkt mich niemand mehr – 101 Power-Strategien, um Zurückweisung und Kritik nicht mehr persönlich zu nehmen», Verlag PAL, 2024
Monika Renz: «Versöhnung und Vergebung – Wie Prozesse der Befreiung im Leben und im Sterben möglich werden», Verlag Herder, 2019