Den Fluss des Lebens wieder leben lernen

Manchmal steckt man im Leben richtig fest. Die Beziehung, der Job, die Welt – alles ist seit langem nur noch grau. Höchste Zeit also, sich von den alten Verhaltens- und Glaubensmustern zu verabschieden, die uns über Jahre hinweg in diese Sackgasse geführt haben. Was es dazu braucht, ist ein ernsthafter Veränderungsprozess – und ein solcher braucht viel Geduld.

Markus Kellenberger



Wenn ich mit Menschen rede, die sich in tiefen Lebenskrisen befinden, dann fällt vor allem eines auf: ihr Leiden dauert bereits viele Jahre. Am Anfang zeigte es sich vielleicht nur als leises Unbehagen, das sich mit einem zusätzlichen Wellness-Wochenende oder einem zweiten Glas Wein leicht überspielen liess. Mit der Zeit aber wurde das Unbehagen grösser und die Nächte immer häufiger, in denen man aufwachte und wusste, dass irgendetwas mit dem Leben, der Partnerschaft oder dem Job fürchterlich schief lief. Tagsüber setzte man routiniert die «alles im Griff-Maske» auf, so lange, bis gar nichts mehr ging und die Seele unüberhörbar um Hilfe rief. Burn-out, Depression, Kontrollverlust, Heulkrampf, die Verbindung zu sich selbst und dem Leben komplett verloren – spätestens jetzt ist es Zeit für einen ernsthaften Veränderungsprozess mit Unterstützung durch eine vertrauenswürdige Begleitung.


Sich verändern ist kein Spaziergang
Wer diesen Weg wählt, mit Vorteil schon fünf vor statt nach zwölf, muss wissen, dass das kein Spaziergang wird, den man an einem Wochenendkurs oder in drei Monaten oder einem halben Jahr Therapie hinter sich bringt. Ein Veränderungsprozess ist ein Aufbruch in ein neues Leben, man kann auch sagen, ein Aufbruch ins Unbekannte, und das braucht neben einem genug grossen Leidensdruck vor allem zwei Dinge: Mut und Geduld. Verhaltens- und Glaubensmuster, die einem seit der Kindheit begleitet und den Alltag bestimmt haben, müssen aufgearbeitet, losgelassen und durch neue ersetzt werden. «Ein solcher Prozess dauert realistischerweise zwei bis drei Jahre», sagt die Psycho- und Traumatherapeutin Dami Charf. Und diese zwei bis drei Jahre mit jeweils rund 40 Therapiestunden und der nötigen eigenen Persönlichkeitsarbeit nebenher haben es in sich, denn sie gleichen einer Achterbahnfahrt der Gefühle.

Ein mehrjähriger Veränderungsprozess durchläuft in der Regel drei Phasen, die durch verschiedene Hochs und Tiefs und dazu gehörenden Fallstricken gezeichnet sind. Jede, jeder und jedes geht da durch.

Phase I – die Erstverschlimmerung: Nach der ersten Erleichterung, endlich etwas gegen das eigene Leid zu unternehmen, geht es in den nachfolgenden Wochen erst einmal abwärts. In der Psychologie nennt man das die Erstverschlimmerung. Die dauert so lange, bis sich die ersten kleinen Therapieerfolge einstellen. Das kann sein: Du siehst Dinge in deinem Leben plötzlich in einem anderen Licht, kannst anders reden oder in bestimmten Situationen sogar anders handeln als früher und realisierst, dass sich langsam etwas bewegt. Wer es durch diese Phase schafft, bekommt wieder Mut und steht auch gleich vor dem ersten Fallstrick, denn: an diesem Punkt geben viele auf, weil sie glauben, das genügt. Tatsache ist aber, dass noch viel Arbeit und noch viele aufzuarbeitende Muster warten. Wer hier aussteigt, ist bald wieder in alten Fahrwassern, deshalb heisst es nun «durchhalten».

Phase II – das Tal der Tränen: Nach dem ersten Hoch in Phase I geht es jetzt nochmals so richtig in den Keller. Im Rahmen von Veränderungsprozessen nennt man dies das Tal der Tränen, und zwar aus folgendem Grund: Die durchschaut und abgelegt geglaubten alten Muster bäumen sich nochmals auf um dir zu zeigen, wer hier das Sagen hat. Diese emotional höchst erschütternde Phase ist aber genau auch die Zeit vor dem Durchbruch, denn ab hier geht es nun stetig aufwärts, sofern man nicht aufgibt.

Phase III – die Arroganz der Therapierten: Hier, beim Übergang von Phase II in Phase III lauert wieder ein Fallstrick, und zwar der der «Arroganz der Therapierten», wie Fachleute dieses Phänomen nennen. Endlich aus dem Gröbsten raus, meinen viele, nun den totalen Durchblick und alles verstanden zu haben. Entsprechend bläht sich das neu gewonnene Selbstbewusstsein dermassen auf, dass man sich allen anderen Menschen im eigenen Umfeld überlegen fühlt. Klassischerweise beginnt man nun im Bekanntenkreis einen Kreuzzug, weil man glaubt, überall psychische Defizite zu sehen, die unbedingt therapiert werden müssten – und geht dabei allen gehörig auf die Nerven.

In dieser dritten Phase des Veränderungsprozesses geht es also auch darum, die Füsse wieder auf den Boden zu bekommen. Du hast alte Verhaltens- und Glaubensmuster abgelegt und dank deinem Durchhaltewillen neue gelernt – und bist nicht mehr derselbe Mensch wie zu Beginn des Prozesses. Vielleicht hast du einen neuen Job; vielleicht eine neue oder völlig erneuerte Beziehung zu dir und dir lieben Menschen; und vielleicht hat sich dein Freundes- und Bekanntenkreis während deiner Entwicklung auch verändert. All das gehört zu diesem Prozess der Veränderung dazu.


Wer durchhält wird belohnt
Um es noch einmal in aller Deutlichkeit zu sagen: der persönliche Veränderungsprozess ist kein Spaziergang und in den meisten Fällen geht das nicht ohne eine unterstützende Begleitung. Das Angebot in diesem Bereich ist gross und umfasst das ganze Spektrum von Esoterik, Spiritualität und Psychologie. Anbietende, die mit Heilversprechen werben oder suggerieren, der Veränderungsprozess sei an einem Kurs- oder Ritualwochenende zu schaffen, sind unseriös. Seriöse Angebote zeichnen sich oft durch ein unverbindliches und kostenloses Erstgespräch sowie einen fundierten Hintergrund aus und vor allem dadurch, dass keine schnelle Heilung, sondern zwei, drei Jahre harte Arbeit versprochen wird – darin liegt das Geheimnis des Erfolgs eines Veränderungsprozesses.

Weiter auf den alten Geleisen vor sich hin rollen – oder mutig neue Richtungen einschlagen? Wer sich für einen Veränderungsprozess entscheidet, lässt sich auf auf ein grosses Abenteuer ein.


Buchempfehlung
Christopher Germer: Der achtsame Weg zum Selbstmitgefühl, Verlag Arbor, 2023


Haben Sie Fragen?
Markus Kellenberger begleitet Menschen auf der Reise ins Innere und beantwortet Ihre Fragen aus den Bereichen Leben, Liebe, Glaube und Spiritualität persönlich und ganzheitlich. m.kellenberger@weberverlag.ch

 

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