Wildkräuterküche

Der Winter ist Geschichte, die Vegetation meldet sich zurück. Bald spriessen an Waldrändern, in Hecken, an Bach- und Flussufern frische, kraftvolle Wildkräuter mit vielen wertvollen Nährstoffen und dem unverfälschten Geschmack der Natur.

Yves Scherer

Die natürlichsten und nährstoffreichsten Nahrungsmittel finden wir während einem Spaziergang draussen in der Natur. Sie kosten uns nichts weiter als ein bisschen Bewegung. Wer saisonale Wildkräuter in seine Ernährung einbezieht, kann sich teure Nahrungsergänzungsmittel sparen, denn das selbst gesammelte, frische Grün ist vollgepackt mit lebenswichtigen Nährstoffen. Zudem profitieren wir von ihrer Arzneiwirkung. Während eines Spaziergangs im Wald oder am Flussufer können wir beobachten, welche Pflanzen bestimmte Standorte bevorzugen, welche Arten beieinander wachsen und wie sich ihre Gestalt über das Jahr hinweg verändert. Wildkräuter sammeln bedeutet, sich als Teil der Natur bewusst zu werden und ihre Schätze zu nutzen.

Wirkstoffmix der Extraklasse

Jede Pflanze baut ihre individuelle Mischung von Wirkstoffen auf, die geprägt ist von der Genetik, der Bodenchemie, der Temperatur, dem Lichtangebot und vielen weiteren Faktoren. Über das Jahr verändern sich die eingelagerten Stoffe und auch der Geschmack der Kräuter. Im Frühling sind die jungen Blätter zart und ihr Aroma ist noch mild, im Sommer dagegen wird ihr Geschmack herb und bitter. Deshalb ist der Frühling die Hochsaison der Kräuterküche.

Kohlenhydrate, Eiweisse und Fette sind die Produkte aus dem Primärstoffwechsel der Pflanze, der Fotosynthese. Diese primären Stoffe werden zerlegt, und in Variationen neu zusammengebaut. So entstehen hunderte weiterer Stoffe, die der Pflanze in unterschiedlicher Weise nützlich sind. Unser Stoffwechsel hat sich über Jahrtausende mit und durch unsere (wilde) Pflanzenkost entwickelt und ist bestens an diese angepasst. Wildkräuter machen nicht nur den Grossteil unserer evolutionsgeschichtlichen Ernährung aus, sie waren auch stets die ersten und wichtigsten Arzneien. Wilde Pflanzen haben mehr Nährstoffgehalt und wirksamere Heilkräfte als industriell produzierte Nahrungsmittel. Bitterstoffe sind für unsere Gesundheit enorm wichtig, aber den modernen Gemüse-, Salat- und Kräutersorten wurden sie weggezüchtet. Nicht umsonst spricht man von «bitterer Medizin». Bitterstoffe regen die Verdauung an, stärken das Immunsystem, wirken antibiotisch, entgiftend, säureneutralisierend und stimmungsaufhellend.

Chlorophyll, der grüne Superstoff

Der grüne Farbstoff, mit dem die Pflanze Fotosynthese betreibt, ist an der Biosynthese des Blutes beteiligt. Er wirkt entzündungshemmend, antibakteriell, krebshemmend, antioxidativ, immunstimulierend und vieles mehr. Wollte man die medizinische Wirkung dieses Stoffes umfassend darstellen, müsste man ein Buch darüberschreiben. Das Chlorophyll allein ist schon ein guter Grund, regelmässig Wildpflanzen zu konsumieren.

Zubereitung

An sauberen Standorten gesammelte Wildkräuter müssen nicht gewaschen werden. Am besten werden sie frisch und roh zubereitet. Dann bleiben ihre medizinischen Eigenschaften erhalten. Wildkräuter haben sich längst in der Haute Cuisine etabliert. Ihre unverfälschten, wilden Aromen schmecken frisch, ätherisch-blumig, herb, leicht bitter, erdig, würzig oder süsslich-scharf. Sie bereichern Salate, Suppen, Pesto, Aufläufe und salzige Wähen. Sie lassen sich auch zu Kräutersalz, Kräuterbutter und Kräuterquark verarbeiten – oder man geniesst sie als Tee. Wer gerne experimentiert, kann die gesammelten Kräuter auch fermentieren.

Grosse Brennessel (Urtica dioica)

Die Brennnessel ist eine der nahrhaftesten wilden Pflanzen unserer Gegend. Sie enthält viel Chlorophyll und Eisen. Man muss sie in der Regel nicht lange suchen, denn sie ist ein Kulturfolger. Wer sich getraut, sie mit blossen Händen zu pflücken – hier der Trick: unterhalb der obersten zwei bis drei Blattpaare greift man vorsichtig den Stängel und knickt ihn ab. Dann streift man die Blätter mit Daumen und Zeigefinger dem Stängel entlang nach oben. So werden die Brennhaare gequetscht und stechen nicht. Grössere Mengen können mit dem Wallholz gewalkt werden. Wird man trotzdem gestochen, ist das eigentlich vorteilhaft, denn die in den Brennhaaren eingelagerten Säuren und Phytohormone gelangen über die Haut in die Blutbahn und können rheumatische Beschwerden lindern. Brennnesseln wirken stark wassertreibend, unterstützen den Stoffwechsel und entgiften den ganzen Körper. Das Aroma der frischen Blätter erinnert an Haselnüsse. Die im Herbst reifenden Samen sind wahre Kraftpakete – mit aphrodisierender Wirkung.

Gundelrebe, Gundermann (Glechoma hederacea)

Dieser Lippenblütler breitet sich durch Ausläufer über den Boden aus und bildet dunkelgrün glänzende Polster. Im Frühling richten sich die violett blühenden Triebspitzen senkrecht auf. Gesammelt werden die jungen efeu-ähnlichen Blätter oder der ganze blühende Spross. Die Pflanze ist ein altbekanntes Würzkraut. Sie ist traditioneller Bestandteil der Gründonnerstagssuppe, einer Kultspeise die Gesundheit für das ganze kommende Jahr bringen soll. Gundelrebe gedeiht an Waldrändern, in Hecken und auf Brachflächen. Sie hat ein intensives, herb-würziges Aroma und wird sparsam verwendet. Die enthaltenen ätherischen Öle und Gerbstoffe wirken antiseptisch und wundheilend.

Giersch (Aegopodium podagraria)

Der Giersch gehört zur grossen Familie der Doldenblütler. Man findet ihn vor allem am Waldrand. Gerne setzt er sich aber auch in Gärten fest. Dort bringt er die ratlosen Gärtner*innen zur Verzweiflung, wenn sie mit Spaten und Giftspritze versuchen, das vitale Kraut wieder loszuwerden. Als Unkraut verschrien, wird die Pflanze kläglich verkannt. Denn die zarten jungen Blätter, die der Form eines Ziegenhufes ähneln, enthalten viel Eiweiss, Vitamin C und Provitamin A. Einst war Giersch ein bekanntes und beliebtes Wildgemüse – bis er vom Gartenspinat abgelöst wurde. Sein Aroma erinnert an Karotte und Petersilie. Geheimtipp Giersch-Gundelrebe-Pesto: hmmm, lecker! Aber Achtung! Alle Doldenblütler müssen zweifelsfrei bestimmt werden, bevor man sie sammelt. Denn in dieser grossen Pflanzenfamilie finden sich neben den wertvollen Gemüse-, Würz- und Heilpflanzen wie Karotte, Sellerie, Fenchel, Liebstöckel, Kümmel und Angelika auch tödlich giftige Arten wie Gefleckter Schierling, Wasserschierling und Hundspetersilie.

Bärlauch (Allium ursinum)

Dieses urchige Lauchgewächs reinigt mit seinen Schwefelverbindungen gründlich die Verdauungsorgane. Die Pflanze ist ein natürliches Antibiotikum und befreit die Darmflora von schädlichen Bakterien. Ausserdem enthält sie sehr viel Vitamin C.

Bärlauch-Pesto ist ein Klassiker der Wildkräuterküche.

Wichtig ist, die Bärlauchblätter von denen des Maiglöckchens und der Herbstzeitlose unterscheiden zu können. Die Verwechslung könnte eine gefährliche Vergiftung zur Folge haben. Das wichtigste Unterscheidungsmerkmal ist der starke Knoblauchgeruch der Bärlauchblätter. Ein ausführlicher Bericht zum Bärlauch ist in der Kolumne «Heilpflanze» auf der Seite 42 dieses Magazins zu lesen.

Vogelmiere (Stellaria media)

Die Vogelmiere wächst gerne an halbschattigen, feuchten Standorten und breitet sich wie ein Teppich über den Boden aus. Die mineralstoffreiche Pflanze kann fast über das ganze Jahr geerntet werden. Sie enthält die Vitamine A, B1, B2, B3 und C.

Dazu das Spurenelement Selen, Schleimstoffe, Saponine, Kieselsäure und weitere wertvolle Inhaltsstoffe. Ihr mildes Aroma gleicht den oft herben Geschmack anderer Wildkräuter aus. Am besten kommt sie in einem Salat zur Geltung. Verwendet wird die ganze Pflanze. Weil das Kraut sehr nahe am Boden wächst, sollte man es waschen. Vogelmiere ist ein gutes Vogelfutter. Hühner lieben es.

Bäume

Die jungen Blätter und Keimlinge vieler Bäume sind geniessbar und oft überraschend angenehm im Geschmack, beispielsweise von Linde, Ahorn, Hasel und Buche. Das gesammelte Harz von Fichte, Weisstanne, Kiefer und Lärche kann über Jahre aufbewahrt werden. Zu kleinen Kügelchen geformt, kann es als antiseptischer Kaugummi gegessen werden. Der intensive, balsamische Geschmack bleibt dann etwa eine Stunde spürbar. Die Aromastoffe der Baumharze desinfizieren die Mundhöhle und können auch in Wundsalben eingearbeitet werden.

Einige weitere geniessbare Wildkräuter

Dost/Wilder Majoran (Origanum vulgare),

Gamander-Ehrenpreis (Veronica chamaedrys),

Gänseblümchen (Bellis perennis),

Huflattich (Tussilago farfara),

Kleine Braunelle (Prunella vulgaris),

Kleiner Wiesenknopf (Sanguisorba minor),

Knoblauchsrauke (Alliaria petiolata),

Kohl-Gänsedistel (Sonchus oleraceus),

Kriechender Günsel (Ajuga reptans),

Kriechendes Fingerkraut (Potentilla reptans),

Löwenzahn (Taraxacum officinale),

Pfennigkraut (Lysimachia nummularia),

Rotklee (Trifolium pratense),

Storchschnabel (Geranium robertianum),

Walderdbeere (Fragaria vesca),

Weisse Taubnessel (Lamium album),

Wiesen-Bärenklau (Heracleum sphondylium),

Wiesen-Labkraut (Galium mollugo),

Wilde Malve (Malva sylvestris),

Wilde Möhre (Daucus carota),

Wildes Stiefmütterchen (Viola tricolor).

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