Sexualität: ein Politikum?
Obrigkeiten mischen sich seit jeher in das ein, was in unseren Betten geschieht. Seitdem Männer die Rolle ihres Samens für die Fortpflanzung entdeckten, hat man Ehen arrangiert, um Bündnisse zu schliessen oder das Erbe an die richtigen Nachkommen weiterzugeben. Nach einer Hochzeitsnacht prüften Würdenträger am Betttuch, ob die Braut «unbeschädigt» war. Und – ein sehr schlimmes Kapitel – sexuelle Gewalt wurde als Kriegsmittel eingesetzt.
Ob Ein- oder Vielehe, ob offizielle oder heimliche Mätressen, ob Asketentum in Klöstern oder grausame Gepflogenheiten wie die Beschneidung von Sexualorganen: Das jeweils korrekte sexuelle Verhalten war in allen Zeiten vorgeschrieben und wurde von Familie, Beichtvätern und Obrigkeiten überwacht, Fehlverhalten teils streng bestraft. Heute haben alle Menschen «das Recht, frei und unabhängig über ihre Körper, ihre sexuelle Identität und ihre Fortpflanzung zu entscheiden.» Doch die Einmischung ist geblieben, vor allem in Form von Werbung, Pornos und anderen Medien. Sollwerte bestimmen darüber, ob wir sexuell leistungsfähig, attraktiv oder genussfähig genug sind.
Die sexuelle Lust nimmt zwar angeblich zwar ab, aber das gilt nicht für den Sex-Konsum: Ein Viertel aller Internetaufrufe sind Pornos. Bevor junge Menschen zum ersten Mal Sexualität erleben, kennen sie zumeist schon alle Spielarten menschlichen Geschlechtsverkehrs vom Bildschirm. Statt in Ruhe Kontakt mit ihrer eigenen Lust aufzunehmen oder den Körper ihres Geliebten zu entdecken, sind sie daher beim ersten Sex eher gestresst – und mit Konkurrenzgefühlen zu top gestylten und top-fitten Sexqueens und -hengsten beschäftigt. Die Schönheits- und Leistungsideale, denen wir uns freiwillig unterwerfen, um sexuellen Normen zu entsprechen, betreiben ganze Industriezweige.
Ist deshalb Sex politisch: Weil man daran so gut verdient?
Zum Teil ja. Allein das Geschäft mit der Internet-Pornografie erwirtschaftet einen Umsatz von 12,6 Millionen Euro pro Tag. Mensch läuft den erotischen Reizen hinterher wie der Esel der Mohrrübe und lässt sich dabei zum Kauf verführen, ob Kleider, Elektrogeräte oder Urlaubsreisen.
Aber noch etwas anderes macht den Sex politisch: Wer die Kontrolle über unsere Sexualität hat, der hat uns quasi in der Hand. Sexuelles Empfinden ist eine mächtige Lebenskraft und so zentral in unserem Wesen, dass sie die Gesellschaft wie ein heimliches Nervengewebe durchdringt. Es durchzieht uns alle, selbst wenn wir auf Sex verzichten. Sexualität ist überpersönlich und gleichzeitig zutiefst mit unserer Identität verbunden. Wir können kaum tiefer verletzt werden – physisch und seelisch – als durch sexuelle Demütigung.
Was tun? Wir dürfen einfach wissen, dass Sex, so intim er ist, nicht nur eine Privatsache ist. Sondern ein Geschenk des Lebens und mächtiger als die jeweiligen Vorstellungen, wie er zu sein habe. Das hat auch Vorteile: Wenn Scham und Vergleich uns nicht lähmen, können wir herausfinden, was uns wirklich anmacht und was uns abtörnt. Wonach wir uns sehnen und wo unsere Grenzen sind. Wenn wir unsere ureigene Sexualität entdecken und unsere Sprache dafür gefunden haben, ja dann lassen wir uns nicht mehr an der Mohrrübe herumführen.

Leila Dregger ist Journalistin und Buchautorin. Sie begeistert sich für gemeinschaftliche Lebensformen, lebte u. a. über 18 Jahre in Tamera, Portugal, sowie in anderen Gemeinschaften. Am meisten liebt sie das Thema Heilung von Liebe und Sexualität sowie neue Wege für das Mann- und Frau-Sein.