Richtig essen

Kategorie: Essen


Die Situation könnte kaum paradoxer sein: Das Angebot an Lebensmitteln war nie so vielfältig wie heute. In diesem Schlaraffenland leiden jedoch immer mehr Menschen unter ernährungsbedingten Störungen. Woran liegt das und was kann man dagegen tun?




Es ist kompliziert geworden. Was soll heute auf dem Mittagstisch stehen: Nasi Goreng, ein veganes Menü, Rohkost, Tofu-Geschnetzeltes, Sushi, Smoothie, ein Trennkostmenü oder gar eine steinzeitliche Paleo-Diät? Die Speisenauswahl war noch nie so üppig wie im 21. Jahrhundert. Auch ausserhalb der eigentlichen Saison ist vieles verfügbar: Spargeln aus Mexiko, Frühkartoffeln aus Ägypten, Birnen aus Südafrika oder Erdbeeren aus Spanien. Während die Generationen vor uns assen, was der Garten hergab, was saisonal auf dem Markt erhältlich war oder im Vorratskeller lagerte, wird heute der Lebensmitteleinkauf zur Heraus-, ja mitunter Überforderung. Kriterien wie Bioqualität, Fair Trade, tiergerechte Haltung, Regionalität oder Freiheit von Palmöl und bedenklichen Zusatzstoffen sind nur einige der abzuwägenden Kaufargumente. Manche Konsumenten wiederum verzichten auf einzelne Lebensmittel, weil sie die Regierungspolitik der entsprechenden Herkunftsländer nicht unterstützen wollen. Das Essen wird damit zum politischen Manifest. Zur Gewissensfrage wird es bezüglich der Umwelt: Monokulturen brauchen Unmengen an Pestiziden, welche Boden und Grundwasser vergiften, und tragen zum Artensterben bei. Ganz zu schweigen von den Antibiotikarückständen im Schweinefleisch und den Schwermetallrückständen im Fisch aus den ohnehin übernutzten Weltmeeren.











Zwischen Appetit und Vernunft Bei verantwortungsbewussten Menschen schwingt beim Essen ein gewisses Grundmisstrauen. Darf man wirklich mit gutem Wissen geniessen, was auf dem Teller liegt? Ihren Teil zur Skepsis beigetragen haben auch die zahlreichen ans Licht gekommenen Skandale der letzten Jahre wie undeklariertes Pferdefleisch in der Lasagne, Gammelfleisch, BSE, EHEC etc. Und so ist heutzutage nicht die Lust aufs Essen und Trinken vorrangiges Kriterium beim Einkauf, sondern die persönliche Weltanschauung und Lebenseinstellung, oft gekoppelt mit der Sorge um die eigene Gesundheit. Die ständige Ambivalenz zwischen Appetit und Vernunft bringt das Essverhalten vieler Menschen durcheinander. Mit der Zeit trauen die Konsumenten infolge der vielen kritischen Medienberichte zu Lebensmittelthemen ihren Instinkten nicht mehr: Was einem das Wasser im Mund zusammen laufen lässt, ist vielleicht alles andere als unbedenklich. Sind im Grillierten womöglich krebserregende Schadstoffe enthalten? Übersäuert der Pausensnack den Organismus? Verschleimen Milchprodukte den Körper? Und was ist mit all den Zusätzen, dem Zucker und Salz in Fertigprodukten? Der einst so natürliche und freudige Vorgang des Essens hat eine übergrosse Aufmerksamkeit bekommen, die nicht vom Geniessen, sondern von der Skepsis genährt wird. Gut gemeint, aber ... Kein Wunder behaupten Kritiker, für manche Menschen sei das Thema Ernährung mittlerweile zu einer Art Ersatzreligion geworden. Aus der Luft gegriffen ist diese Einschätzung nicht: die Medizin kennt das Krankheitsbild der «Orthorexia nervosa», den Zwang gesund zu essen. Im fortgeschrittenen Stadium konsumieren Betroffene nur noch eine geringe Auswahl an Nahrungsmitteln, weil sie die restlichen für ungesund halten und deshalb meiden. Kinderspitäler ihrerseits vermelden, dass die Patientenzahlen mit Symptomen einer Fehlernährung zunehmen. Weil Eltern ihre Liebsten mit vermeintlich besonders gesunder Nahrung versorgen wollen, weisen zunehmend mehr Kleinkinder Defizite an einzelnen Aufbaustoffen auf. Einige Mütter und Väter standen schon vor Gericht, weil ihre Kinder die Auswirkungen dieser Extremdiäten nicht überlebt haben. Weitere Fakten verdeutlichen, dass sich das Essen für manche Menschen vom Vergnügen zum Problem gewandelt hat. Ärzte für Magen-Darm-Krankheiten registrieren in den letzten Jahren vermehrt Patientinnen mit häufigen Blähungen, Bauchkrämpfen und Störungen bei der Stuhlentleerung. Ursache ist öfters der Ernährungsstil, der vor allem aus Früchten, Beeren, Nüssen, ungekochtem Gemüse und Smoothies besteht. Bei deren Verdauung entstehen übermässig viele Gase, die die beschriebenen Beschwerden auslösen können. In einer Umfrage der renommierten Berliner Klinik Charité gaben 35 Prozent der 13'300 Befragten an, nach dem Essen unter heftigen Beschwerden zu leiden. Medizinisch ist dieses Ergebnis kaum zu erklären, eher psychologisch: die vielen Medienberichte über Laktose- und Glutenintoleranz, Histaminunverträglichkeit und Lebensmittelallergien verunsichern. Gemäss einer Studie aus Deutschland gibt es auch immer mehr Patienten im Alter von 23 bis 27 Jahren mit Verdacht auf Reizdarm. Im Zeitraum von zwölf Jahren ist deren Zahl um 70 Prozent gestiegen. Die Betroffenen vermuten bei sich selber oft Unverträglichkeiten und beginnen im Internet zu recherchieren – eine Fundgrube für diffuse Diagnosen, allerlei Rezepte und Diätempfehlungen, Kalorientabellen, Angebote an Nahrungsergänzungsmittel und vielem mehr. Unverhofft wird die vermeintliche Informationsfund- zur verwirrenden Fallgrube.

Bei Empfehlungen zur gezielten Nahrungsaufnahme sollte man grundsätzlich skeptisch sein, zu pauschal sind die Angaben. Zum einen leben Menschen sehr unterschiedlich: Eine im Alltag körperlich geforderte Pflegefachfrau im Schichtdienst hat einen anderen Energiebedarf als eine Buchhalterin, die am Bildschirm arbeitet. Zum anderen erweisen sich die Ableitungen verschiedener Ernährungsstudien als methodisch zweifelhaft: Erkenntnisse, die an Labormäusen gewonnen wurden, lassen sich nun mal nicht unmittelbar auf Menschen übertragen.


Instinktiv essen Doch wo liegt nun die Lösung dieses Dilemmas rund um das Essen? In uns selber, betonen verschiede Ernährungsexperten. Der Körper wisse genau, was er benötige. Er besitze eine kulinarische Intelligenz. Die Empfehlung der Fachleute: Wenn wir uns darin üben, darauf zu achten, was der Körper signalisiert, versorgen wir ihn ausgewogen mit allem Nötigen und muten ihm keine Speisen mehr zu, die er nicht verträgt. Am radikalsten setzen dies die sogenannten Instinktos um (siehe Box unten). Sie wählen ihre Mahlzeiten nicht mit dem Kopf aus, sondern vertraut ganz ihren Sinnen, vor allem dem Geruchs- und dem Geschmackssinn. Sie essen ausschliesslich Rohkost und salzen und würzen ihr Essen nicht, da jede Veränderung der Nahrung den Instinkt überliste. Dafür essen sie alles, was im Naturzustand gut riecht und gut schmeckt, auch Fleisch und Eier (aus artgerechter Haltung!). Alle naturbelassenen Lebensmittel sind bei der Instincto-Ernährung erlaubt, nur auf Milch (mangelhafte genetische Anpassung) und Weizen (Überzüchtung) wird verzichtet, da beide das Immunsystem unterminierten und allergische Symptome hervorrufen könnten. Die Empfehlung, sich auf die kulinarische Körperintelligenz zu verlassen, gilt für Gesunde. Menschen mit chronischen Leiden finden bei anerkannten Ernährungsberatern fachkundigen Rat. Doch auch für sie gilt die Redensart «Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen». Genussvolles zu Tischsitzen ist ein essenzieller Faktor der Lebensqualität; wenn dagegen die Ernährung zum weltanschaulichen Manifest oder zum Experimentierfeld wird, kann sie einem leicht den Appetit verderben. Und wer will das schon?







Instincto-Therapie Begründer der Instincto-Therapie, eine besondere Form der Rohkosternährung, ist der Schweizer Musiker und Physiker Guy-Claude Burger (*1934). Er litt an fortgeschrittenem Rachenkrebs und genas durch die Rückkehr zu einer naturbelassenen, ursprünglichen Lebensweise. Auf dem Weg seiner Genesung entdeckte er das Vorhandensein des Ernährungsinstinkts beim Menschen. Demnach sind wir in der Lage, über Geruch und Geschmack, das Lebensmittel herauszufinden, das dem Körper exakt die Stoffe zuführt, die er im Moment braucht. Burger zufolge müssen die Lebensmittel Rohkost sein und dürfen durch keine thermischen oder chemischen Prozesse oder gar Bestrahlung denaturiert sein. Idealerweise wird auch eine mechanische Veränderung vermieden. Zusätzlich werden Lebensmittel nicht miteinander gemischt – es wird also immer nur ein Lebensmittel gegessen. Gemäss einer Studie des französischen Instituts für Genetische Anthropologie ist die Nährstoffversorgung von Instinktos überdurchschnittlich gut. Es ist allerdings nicht leicht, die Praxis in den Alltag einzubauen. Ein Plus hingegen ist der genussbetonte Charakter, der vielen anderen alternativen Ernährungsformen abgeht. Zudem kann, wer diese Form von Ernährung praktiziert, das Urvertrauen in den eigenen Körper zurückgewinnen und Burgers sicherlich bedenkenswerte Ideen ganz auf seine Bedürfnisse anpassen.

Buchtipps ● Thomas Frankenbach «Somatische Intelligenz. Hören, was der Körper braucht», Koha-Verlag 2014, ca. Fr. 20.– ● Uwe Knop «Intuitiv essen. Aktiviere dein natürliches Schlankheitsprogramm», Riva-Verlag 2017, ca. Fr. 16.– ● Udo Pollmer u.a. «Wer hat das Rind zur Sau gemacht? Wie Lebensmittelskandale erfunden und benutzt werden», Rowohlt-Verlag 2012, ca. Fr. 13.–

Link: eaternity.org

Fotos: iStock.com

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