Alternative Ernährung auf dem Vormarsch
Immer mehr Menschen entscheiden sich, ihre Ernährung anzupassen und auf Fleisch oder gar auf alle tierischen Produkte zu verzichten. Was hat es mit dieser Entwicklung auf sich? Die Berner Ernährungsberaterin Amélie Lustenberger macht reinen Tisch mit Vorurteilen und erleichtert den Neugierigen das Ausprobieren der alternativen Küche.
Corinne Kneubühler

In den letzten Jahren hat der Fleischkonsum in der Schweiz stetig leicht abgenommen. Fast jede vierte Person hat den eigenen Fleischkonsum bewusst reduziert. Besonders jüngere Menschen ernähren sich immer häufiger vegetarisch oder vegan. Auch in der Ernährungsberatung werden vegetarische und vegane Ernährungsformen immer wieder zum Thema. Amélie Lustenberger trifft in ihrer Praxis oft Eltern, deren Kinder, meist im Jugendalter, sich gerne vegetarisch oder vegan ernähren möchten. «Die Eltern machen sich Sorgen und möchten wissen, worauf sie achten sollten», erzählt die Ernährungsberaterin. Die Bedenken kreisen meistens um potenzielle Nährstoffmängel, die zu Entwicklungsdefiziten, neurologischen Problemen oder verlangsamtem Wachstum führen könnten. Amélie Lustenberger relativiert und sorgt für Klarheit: «Bei Kleinkindern würde ich die vegane Ernährung nicht empfehlen. Eine reichhaltige vegetarische Ernährung ist aber grundsätzlich problemlos.» Es muss also klar unterschieden werden zwischen der vegetarischen und der veganen Ernährung. Während beide Ernährungsformen auf Fleisch verzichten, ist die vegane Ernährung restriktiver. Personen, die sich vegetarisch ernähren, essen Eier und Milchprodukte, wodurch sie zu allen Nährstoffen kommen und nicht weiter supplementieren müssen. Wer sich aber vegan ernährt, also ganz auf tierische Produkte verzichtet, muss auf die ausreichende Zufuhr gewisser Nährstoffe, insbesondere Vitamin B12, achten (dazu später). Es wird jedoch oft eine grössere Sache daraus gemacht, als es wirklich ist. Die Angst vor gesundheitlichen Folgen bei alternativer Ernährung stellt häufig die Realität in den Hintergrund. Krankheiten wie Diabetes oder Herz-Kreislauf-Probleme entstehen nicht durch das Weglassen von Fleisch (oder allen tierischen Produkten), ganz im Gegenteil. Das viel grössere Problem für die Gesundheit stellt der Überkonsum von verarbeitetem Fleisch und den darin enthaltenen gesättigten Fettsäuren dar. Damit sind Fleischprodukte gemeint, die grosse Mengen an Konservierungsmitteln, Geschmacksverstärkern oder sonstigen Zusatzstoffen enthalten. Frisches Fleisch wird hingegen nur mit Gewürzen verfeinert oder beispielsweise in einem Räucherofen befeuert, statt mit künstlichen Aromen billig und schnell hergestellt. Es macht also Sinn, den eigenen Fleischkonsum einmal zu reflektieren und allenfalls zu reduzieren. Auch hier relativiert Amélie Lustenberger: «Man kann sich vegetarisch und vegan ernähren und sehr gesund sein, aber es ist nicht per se das, was dich gesund macht. Die ideale Ernährung würde 1–2 Stücke Fleisch pro Woche beinhalten.»

Wenn es also nicht direkt einen gesundheitlichen Grund hat, ganz auf Fleisch oder tierische Produkte zu verzichten, was bewegt viele trotzdem zu diesen Ernährungsformen? Der Hauptgrund ist nach wie vor der moralische. In der Fleischabteilung im Supermarkt wird oft Fleisch aus nicht tiergerechter Haltung zu günstigem Preis angeboten. Gerade jüngere Erwachsene und Jugendliche hinterfragen vermehrt, ob Tiere «nur» für unseren Genuss gehalten und allenfalls schlecht behandelt werden sollen. Besonders seit die Klimaaktivistin Greta Thunberg 2018 mit ihrem «Schulstreik fürs Klima» die Aufmerksamkeit der breiteren Öffentlichkeit auf die ökologischen Auswirkungen des (Fleisch-)Konsums gelenkt hat, erleben auch alternative Ernährungsformen einen Aufschwung. Neben dem reduzierten Risiko von Herz-Kreislauf-Problemen und einem tieferen Krebsrisiko sorgen die vegetarische und vegane Ernährung also vor allem auch für ein beruhigtes Gewissen.

Alles nur ein Trend?
Allerdings ist der Vegetarismus keineswegs nur eine Phase rebellierender Jugendlicher, und auch keine Mode des 21. Jahrhunderts. Verschiedene religiöse Schriften zeugen bereits im 8. Jahrhundert vor Christus von fleischloser Ernährung in Indien. In Europa und der westlichen Welt war unter anderem der griechische Philosoph Pythagoras wegweisend für die Verbreitung des Vegetarismus. Pythagoras glaubte an die damals verbreitete Lehre der Seelenwanderung, wodurch es für ihn nicht vertretbar war, einen lebenden Organismus zu töten. Jahrhunderte später appellierte auch Leonardo da Vinci, aus Respekt vor dem Tierwohl auf Fleisch zu verzichten. In der Schweiz gehört der Erfinder des Birchermüeslis, Dr. Maximilian Bircher-Benner zu den Pionier*innen der vegetarischen Ernährung. Ausserdem wurde bereits 1898 das älteste rein vegetarische Restaurant der Welt, das Hiltl in Zürich, eröffnet. Damals noch als «Wurzelbunker» verspottet, zog das Hiltl immer mehr Menschen an und überzeugte mit gesunden und reichhaltigen Speisen. Der anhaltende Erfolg der Hiltl-Restaurants zeugt vom andauernden Interesse der Schweizer Bevölkerung an vegetarischem Essen. In den 1970er-Jahren forderten Tierrechtler*innen zum ersten Mal die vegane Ernährung als Endziel. Damals wie auch heute werden Vegetarier*innen und Veganer*innen oft belächelt oder gar beschimpft. Und doch schliessen sich immer mehr Menschen der Bewegung an. Die alternativen Ernährungsformen sind also kein neuzeitiger, kurzlebiger Trend, sondern seit Jahrhunderten gewachsene und entwickelte Lebensstile.

Darauf gilt es zu achten
Wer sich, ob aus gesundheitlichen oder moralischen Gründen oder einfach aus Neugier, an der veganen Ernährung versuchen will, kann fast alle Nährstoffe, die man sonst durch tierische Produkte zu sich nehmen würde, auch in pflanzlichen Produkten finden. Es muss nicht direkt zu Ergänzungsmitteln gegriffen werden. Tatsächlich ist Vitamin B12 der einzige Nährstoff, von dem wir pflanzlich nicht genug aufnehmen können. Dem muss vorangestellt werden, dass die Supplementierung von Nährstoffen – entgegen vielen Vorurteilen – nicht ungesund ist. «Aus unterschiedlichen Gründen müssen Menschen immer mal wieder auf Supplementierungen zurückgreifen», erklärt Amélie Lustenberger. «Jod wird beispielsweise seit Jahren künstlich unserem Salz zugefügt, weil es in unseren Böden nicht genügend vorkommt und wir sonst alle Schilddrüsenprobleme hätten.»

Das Erste, worauf Veganer*innen achten sollten, ist eine ausreichende Proteinzufuhr. Der Körper benötigt Proteine zum Aufbau und zur Reparatur von Zellen und Gewebe wie Muskeln, Haut und Organen. Ausserdem tragen sie zur Regulierung des Stoffwechsels bei, sowie zur Produktion von Antikörpern und damit zur Immunfunktion. Zusätzlich dienen Proteine als Energiequelle und Reserve, wenn andere Nährstoffe nicht ausreichen. Hülsenfrüchte wie Erbsen oder Bohnen, Nüsse, Samen oder Tofu stellen wertvolle pflanzliche Proteinquellen dar. Hier kommt die Bioverfügbarkeit ins Spiel. Diese zeigt an, wie schnell und in welchem Mass ein Nährstoff aufgenommen werden kann. Für den Menschen ist die Bioverfügbarkeit von tierischen Proteinen höher als die von pflanzlichen Proteinen, da sie unseren eigenen Proteinen ähnlicher sind. Allerdings gibt es einen Trick, mit dem die Bioverfügbarkeit von pflanzlichen Proteinen verbessert werden kann. «Man mischt einfach verschiedene Proteinquellen im Menü. Eine solche Kombination ist beispielsweise Mais und Bohnen: Mais hat die Aminosäuren, die den Bohnen fehlen. Zusammen bilden sie aber Protein, das vom menschlichen Körper gut aufgenommen werden kann», erklärt Amélie Lustenberger. Wer solche Tricks kennt, kommt ohne Probleme um künstliche Proteinpulver herum und kann den Proteinbedarf natürlich decken.

Ähnlich ist es bei den Omega-3-Fettsäuren. Diese kann der Körper nicht selbst herstellen, sie sind aber lebenswichtig und tragen zur Herz-Kreislauf-Gesundheit, der Gehirnfunktion und der Sehkraft bei. Ausserdem wirken sie entzündungshemmend und unterstützen das Immunsystem. Am meisten sind Omega-3-Fettsäuren in fettreichem Fisch, wie Lachs, enthalten. Wer sich aber ohne Fisch ernähren möchte, kommt auch über pflanzliche Quellen wie Algen, Leinsamen oder Walnüsse an die Nährstoffe.
Auch Eisenmangel wird oft mit pflanzlicher Ernährung in Verbindung gebracht, da rotes Fleisch als Hauptaufnahmequelle für den Nährstoff gilt. Allerdings muss hier der Blick ein wenig geöffnet werden. «Eisenmangel ist der häufigste Mangel bei Frauen in der Schweiz. Das hat aber weniger mit der Ernährung zu tun als einfach mit der Monatsblutung. Meine Erfahrung ist, dass Eisenmangel grundsätzlich ein Problem ist, auch bei Frauen, die Fleisch essen», so Amélie Lustenberger. Der Körper benötigt zwar nur etwa 3–4 Gramm Eisen, diese kleine Menge ist aber essenziell. Eisen trägt zur Bildung roter Blutkörperchen bei und fördert den Sauerstofftransport im Körper. Ausserdem unterstützt Eisen das Immunsystem, kognitive Funktionen wie das Gedächtnis und die Konzentration sowie den Stoffwechsel. Die geringe Bioverfügbarkeit von Eisen spielt ebenfalls eine Rolle bei Mangelerscheinungen. Wer auf tierische Produkte verzichtet, isst am besten mehr grünes Gemüse, Hülsenfrüchte, Nüsse und Samen, um den Bedarf natürlich zu decken. Der einzige Nährstoff, der bei veganer Ernährung nicht ganz so einfach aufgenommen werden kann, ist Vitamin B12. Dieses ist wichtig für die Erneuerung von Zellen, für die Blutbildung, für den Stoffwechsel und für das Nervensystem. Einige vegane Produkte wie Fleischersatzprodukte oder Milchalternativen werden extra mit B12 angereichert. Wer sich vegan ernährt, profitiert aber von einem Nahrungsergänzungsmittel (siehe Artikel Seite 19). Ausserdem lohnt es sich, alle 2–3 Jahre eine Blutuntersuchung zu machen, damit ein allfälliger Mangel möglichst bald entdeckt werden kann. B12-Mangel hat nämlich oftmals keine auffälligen Symptome und kann dadurch über längere Zeit unbemerkt bleiben.
Aller Anfang scheint schwer
Essgewohnheiten umzustellen, ist gar nicht so einfach. Man kocht mit den Produkten, die man kennt, und möchte sich dabei auch nicht allzu viele Gedanken machen müssen. Welche veganen Produkte gibt es denn überhaupt? Wo ist überall Tierisches enthalten? Welche meiner Lieblingsgerichte kann ich noch essen, wenn ich vegan sein will? Amélie Lustenberger hat wertvolle Tipps, um den Einstieg in die vegane Küche zu vereinfachen. «Man macht es sich oft schwerer, als es sein muss. Eigentlich ist das gar nicht so eine Hexerei», findet sie. Am einfachsten klappt der Umstieg, indem man sich eine Art Rezept-Repertoire zulegt. Das heisst: Man sucht sich einmal sieben bis acht vegane Rezepte raus, die neben Kohlenhydraten auch etwas Proteinhaltiges und viel Gemüse beinhalten, und die vor allem lecker klingen. Wenn man die erst mal beherrscht, hat man’s eigentlich schon geschafft. Besonders eignen sich beispielsweise Kichererbsen-Eintöpfe oder Menüs aus der indischen Küche, wie Curry oder ein Dal (Linseneintopf). Diese Gerichte überzeugen mit ihrer Einfachheit und sind schnell gemacht.

Amélie Lustenberger ist diplomierte Ernährungsberaterin und praktiziert seit 2022 in Bern. In ihrer Praxis legt sie den Fokus auf die Themen Gewichtsregulation und vegetarische und vegane Ernährung. amelies-beratung.ch
