Niemand entkommt der Zeit

Markus Kellenberger

Die Zeit ist, da erzähle ich Ihnen bestimmt nichts Neues, ein seltsames Wesen. Man kann sie weder sehen noch hören oder riechen. Nur anhand eines vorgerückten Zeigers, einer neuen Falte im Gesicht oder eines seit kurzem verdächtig knackenden Gelenks stellen wir fest, dass sie da gewesen sein muss. Die Zeit ist nämlich sehr scheu. Kaum ist sie da, ist sie auch schon wieder fort. Kein Wunder also, dass man sie manchmal anhalten möchte, um mehr von ihr zu haben. Haben Sie schon mal die Zeit angehalten? Ich habe es versucht, und vielleicht hätte es sogar geklappt, wenn ich mich im letzten Moment nicht anders entschieden hätte.

Und das kam so: Um mir den Erdbeermond, anzuschauen, der im Juni für Schlagzeilen gesorgt hatte, machte ich einen Mitternachtsspaziergang über einen abgelegenen Feldweg mit freier Sicht auf den Horizont, denn dort schwebte er ganz rund. Das Licht, das er über die Landschaft streute, war gespenstisch rot. Nichts warf in diesem unheimlichen Schein einen Schatten, auch ich nicht. Als ich das feststellte, überkam mich ein metaphysisches Gruseln. Verwundert blieb ich stehen und blickte auf den schattenlosen Weg zurück, den ich gegangen war. Dort liegt meine Vergangenheit, dachte ich und drehte den Kopf, um auf den Weg zu schauen, den ich noch gehen musste. Und dort ist meine Zukunft. Ich senkte den Blick, sah meine Füsse, die fest auf dem Boden standen, und dachte: Dann ist das wohl meine Gegenwart.

In diesem Moment war ich mir sicher: Wenn ich jetzt stehen bleibe und mich nicht mehr vom Fleck rühre – dann hält die Zeit für mich an, und ich wäre still und starr wie diese Pantomimen, die sich in Touristenorten hinstellen und sich erst wieder bewegen, wenn alle von ihnen ein Foto geschossen haben. Ich aber würde hier stehen und stehen und stehen, und weil das wunderlich wäre, kämen die Leute von weit her, um mich anzustarren. Kinder würden ihre Eltern fragen, «was ist mit diesem Mann», und die Eltern würden antworten, «das ist der Mann, der für sich die Zeit angehalten hat».

Aus aller Welt kämen deshalb auch berühmte Quantenphysiker und Raumzeit-Forscher, um mich zu studieren. Aber irgendwann würden sie alle die Köpfe schütteln und sagen, «da kann man nichts machen, der steht jetzt hier für immer und ewig». Weil ewig sehr lange dauert, kämen mit den Jahren immer weniger Leute, um mich zu betrachten, denn irgendwo auf der Welt gäbe es bald interessantere Dinge zu sehen, als einen Mann, der die Zeit angehalten hatte, und nichts weiter tat, als einfach reglos auf einem Feldweg zu stehen. Nur die Vögel kämen noch regelmässig vorbei, um auf meinem Kopf zu nisten, und das täten sie bis ans Ende der Zeit.

Mit einem kalten Schaudern tauchte ich aus meinem Gedanken wieder auf – und schaffte es gerade noch einen Schritt zu machen, und mich wieder in den Fluss der Zeit einzuklinken. Als ich in dieser Erdbeervollmondnacht endlich wieder in meinem Bett lag, fiel mir ein Satz ein, den ich mal gelesen und nie vergessen habe: «Die Zeit ist das Feuer, in dem wir verbrennen.» Nun gut, dachte ich, das ist mir lieber, als für immer und ewig auf einem Feldweg zu stehen. Denn wenn mich die Zeit schon verbrennt und ich das nicht ändern kann, dann will ich das tun wie die fröhlich flackernden Flammen eines Lagerfeuers, an dem sich alle Menschen, die ich liebe, immer wieder wärmen können.


Markus Kellenberger ist Autor und Journalist. In der Kolumne «Anderswelt» betrachtet er Alltägliches – nicht nur – aus schamanischer Sicht, und an seinen «Feuerabenden» im Tipi begleitet er Menschen auf der Reise ins Innere. markuskellenberger.ch

 

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