Anderswelt: One of these Days

 

Kürzlich las ich in einer Zeitung, dass das Leben gemäss einer Studie aus einer Aneinanderreihung von ganz gewöhnlichen Alltagsmomenten bestehe, und echte «Highlights», also Höhepunkte im Sinne aussergewöhnlicher Ereignisse, äussert selten seien. Das, schlussfolgerten die Verfasserinnen und Verfasser der Studie, sei einer der Gründe für die wachsende Zahl von Menschen mit Depressionen. Sie litten an Langeweile und das schlage ihnen aufs Gemüt. Oje, dachte ich, die armen Menschen, denn in einem Punkt hatte die Studie ganz sicher Recht: die meisten Tage im Leben sind ganz gewöhnliche Tage oder eben das, was man ganz allgemein unter Alltag versteht.

Aber dieser Alltag hat so viele wunderbare Momente – man muss sie nur sehen. Gestern zum Beispiel war ein so ganz gewöhnlicher Tag in meinem Leben. Er begann wie schon so mancher vor ihm mit dem Läuten des Weckers. Weil der Herbstmorgen erstaunlich mild war, frühstückte ich draussen vor dem Haus. Bis zum Horizont schwebten tausende von Schäfchenwolken hoch über mir. Ich schaute der Herde lange zu, wie sie gemütlich nach Osten zog und dabei einem immer grösser werden Stück blauen Himmels Platz machte. Irgendwie vergass ich darob das Denken und liess den Kaffee kalt werden.

Ein helles «Ziiiwiwi» holte mich in die Gegenwart zurück. «Ach, da bist du ja», sagte ich. Keine zwei Meter von mir entfernt hatte sich das kleine Hausrotschwänzchen auf dem Terrassengeländer niedergelassen und nickte mir zu. Ich nickte auf Vogelart mit schrägem Kopf zurück. Das war seit diesem Sommer ein Ritual zwischen ihm und mir, jedes Mal, wenn wir uns begegneten, und die Vertraulichkeit, die sich zwischen uns eingestellt hatte, freute mein Herz. Nach ein paar Mal hin und her nicken frage ich: «Fliegst du bald südwärts?» «Ziiiwiwi», antwortete das Hausrotschwänzchen, flog davon und hatte für den Rest des Tages anderes zu tun. Ich auch.

Nach dem Mittagsabwasch machte ich einen kurzen Spaziergang. In der Nacht zuvor war leichter Regen gefallen und bei jedem Schritt konnte ich spüren, wie feucht das Gras und wie herrlich weich und kühl der Boden unter meinen blossen Füssen war. Ein Schmetterling begleitete mich eine Weile auf meinem Rundgang, tanzte von hier nach da, streifte zwei, drei Mal fast meine Beine und fand dann doch noch eine Kleeblüte, die ebenso spät dran war wie er.

Zurück im Haus setzte ich mich wie schon am Vormittag wieder in meine Schreibstube, in die sich in der Zwischenzeit eine Biene verirrt hatte, die sich lange nicht den Weg zum offenen Fenster zeigen lassen wollte und dabei immer ärgerlicher summte. Schliesslich verlor ich die Geduld und fing ich sie mit Hilfe eines Glases und einem Blatt Papier ein und spedierte sie etwas energisch nach draussen. Beleidigt flog sie davon.

Die restliche Zeit verging mit Recherchen und am späten Nachmittag tauchte überraschend ein Freund auf, den es auf seinem Weg von A nach B zufällig bei mir vorbeigeführt hatte. Ach, das Leben, klagte er, Tag ein Tag aus immer derselbe Trott, aber bald seien Ferien, und da würden er und seine Frau weit weg fliegen, den Alltag endlich wieder mal hinter sich lassen und tolle Sachen erleben. «Und du», frage er, «was läuft bei dir so?» «Eigentlich nichts», sagte ich. «Die Tage kommen, die Tage gehen, einer so gewöhnlich wie der andere – aber vielleicht passiert heute ja noch irgendetwas.»

 

Markus Kellenberger ist Autor und Journalist. In der Kolumne «Anderswelt» betrachtet er Alltägliches – nicht nur – aus schamanischer Sicht, und an seinen «Feuerabenden» im Tipi begleitet er Menschen auf der Reise ins Innere. markuskellenberger.ch

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