Jing und Jang
Vielleicht ist es etwas zu persönlich – aber ich möchte mich einfach einmal bei meinen Grossmüttern für das bedanken, was sie mir mit ins Leben gegeben haben. Sie hiessen Bergoma und Grossmame und waren leibhaftige Gegensätze. Ich erinnere mich gern an sie.
Bergoma hiess Bergoma, weil sie direkt am Fuss des Niesen wohnte. Mächtig ragte der direkt vor dem alten Holzhaus auf. Stand ich auf der Laube, dann nahm er mein ganzes Blickfeld ein und ich musste den Kopf weit in den Nacken legen, um oben im Himmel den Gipfel zu sehen. Je nach Wetter, versteht sich, denn manchmal steckte der auch in einer dicken Wolke. Mir kam es dann immer so vor, als möchte der gewaltige Berg durch diese Wolke hindurch in eine andere Welt entschwinden.
Bergoma lehrte mich die alten Wetterregeln, «hat der Niesen einen Hut, wird das Wetter gut; hat er einen Kragen, darfst hinaus dich wagen; hat er einen Degen, gibt es sicher Regen.» Sie zeigte mir, dass man sich auf diese Regeln verlassen kann, ausser «der Niesen hat gerade eine seiner Launen». Immer wenn sie das sagte, schaute sie den Niesen mit streng zusammengekniffenen Augen scharf an und murmelte: «Wag es ja nicht!» Bergoma war nie auf dem Niesen. «Der Niesen ist ein Riese», sagte sie, «und auf Riesen klettert man nicht. Wir lassen sie in Ruhe, und sie lassen uns in Ruhe!» Bergoma war klein, rund und resolut.
Grossmame hiess Grossmame, weil sie das so wollte. Sie war eher hager als schlank und ging mit einem geraden Rücken und einem unerschütterlichem Glauben durchs Leben. Aus Klatsch hielt sie sich raus. Ich ging gerne mit ihr einkaufen, am liebsten in das Kommissionsstübli von Fräulein de Vries. Über der Tür hing eine Glocke, die beim Eintreten hell bimmelte. Hinter der Theke stand Fräulein de Vries, und ich war mir sicher, dass sie immer dort stand. Tag und Nacht.
Grossmame kaufte gerne bei Fräulein de Vries ein, denn die Auswahl im Lädeli war so klein wie das Lädeli selbst. «Hier hat es alles, was man braucht!» So begrüsste sie jedes mal das Fräulein de Vries, das den Gruss mit einem Lächeln erwiderte. Was es im Laden zu kaufen gab, war akkurat in Regale eingeordnet, die meisten davon lagen in Reichweite von Fräulein de Vriesens Armen. Grossmame blieb hier gerne mal ein paar Minuten länger an der kleinen Theke stehen. Dann tauschten sich die beiden Frauen über Gott aus, und dass man für das Geschenk des Lebens dankbar sein dürfe. Manchmal beteten sie auch zusammen, während ich aus Zuckerstöcken einen Turm baute.
Bergoma hatte nach sieben Kindern genug. Sie liess sich scheiden und lebte fortan in wilder Ehe mit einem anderen Mann. Kaum jemand aus ihrer Generation hat das gutgeheissen – aber respektiert haben es alle, denn Hexen dürfen das, sagte sie, und schliesslich liessen sich die Damen aus dem Tal bei ihr ja auch die Karten legen. Kritikerinnen und Kritiker hat sie mit zusammengekniffenen Augen angeschaut: «Wagt es ja nicht!»
Grossmame war auf eine liebevolle, prüde Art streng mit sich und mit andern. Zwei ihrer fünf Schwestern waren Diakonissinnen geworden, und sie hätte sich das auch sehr gut vorstellen können, deshalb blieb es bei dem einen Kind. Sie wusste nichts von Wetterregeln, aber viel vom lieben Gott. So hat sie ihn meistens genannt. Manchmal nannte sie ihn aber auch «Vater im Himmel», dann wusste ich, dass sie über etwas im Zweifel war und voller Vertrauen um Rat bat.
Die, die den Konflikt nicht scheut und die, die annimmt, was ist. Bergoma und Grossmame, ich habe viel von Euch gelernt. Danke.
Markus Kellenberger ist Autor und Journalist. In der Kolumne «Anderswelt» betrachtet er Alltägliches – nicht nur – aus schamanischer Sicht, und an seinen «Feuerabenden» im Tipi begleitet er Menschen auf der Reise ins Innere. markuskellenberger.ch