In der Zufriedenheit wohnt das Glück

Dem Glück rennen alle hinterher, manche so verbissen, dass sie sich dabei in tiefstes Unglück stürzen. «Nur» zufrieden zu sein, scheint vielen nicht genug. Dabei liegt gerade darin der Keim des stillen Glücks und tiefen Seelenfriedens.

Markus Kellenberger


G
lück ist wie Liebe ein unglaublich überladenes Wort, und die Frage, wie kann ich glücklich werden, beschäftigt seit Menschengedenken Dichtkunst, Philosophie, Wahrsagerei, Theologie und Psychologie, und seit einigen Jahrzehnten auch die wissenschaftliche Disziplin der Glücksforschung. Und trotzdem: Niemand hat bisher ein einfaches Rezept für ein dauerhaft glückliches Leben gefunden. Das liegt nicht zuletzt daran, dass wir oft dem falschen Glück hinterherlaufen. Wenn schon Glück, dann muss es gross sein, berauschend und einzigartig. Hätte ich doch nur einen Lottosechser, ein grösseres Auto oder endlich die Liebe meines Lebens, ich wäre der glücklichste Mensch auf Erden. Solche Gedanken haben wir immer wieder, und vergessen dabei, dass Fortuna eine ziemlich wankelmütige Freundin ist. Egal, wie sehnlichst man sie einlädt, mit welchen Mitteln man sie beschwören oder herbeizaubern will, sie kommt und geht, wie und wann es ihr passt. Wenn sie dann tatsächlich kommt, kommt sie oft nur für einen kurzen Augenblick. Und manchmal merkt man erst, dass sie zu Besuch war, wenn sie wieder fort und der Alltag eingekehrt ist.


Die kleine Schwester des Glücks

Bei all dieser ständigen Suche nach dem grossen Glück geht leicht vergessen, dass Fortuna eine kleine Schwester namens Zufriedenheit hat. Sie ist viel zuverlässiger, langlebiger und auch treuer als das flüchtige Glück. Ausserdem tritt sie gerne unabhängig von grossen Ereignissen auf, die wir oft sowieso nicht beeinflussen können. Was wir aber beeinflussen können, ist unsere innere Haltung dem Leben gegenüber. Im Begriff Zufriedenheit steckt nämlich auch das Wort Friede – und an diesem inneren Frieden, der Seelenruhe, können wir arbeiten. Das ist zwar keine einfache Sache, aber erfolgversprechender, als das grosse Glück ins Haus zwingen zu wollen – auch wenn Versandhändler genau das versprechen.

«Zufriedenheit hängt vom Grad der Erfüllung von Ansprüchen und dem eigenen Anspruchsniveau ab», sagt der Psychologieprofessor Jochen Brandtstädter, der sich in seinen Forschungen mit dem Thema «gelingendes Leben» befasst. Konkret heisst das, es gibt zwei Wege zu mehr Zufriedenheit, einen aktiven und einen passiven. Der aktive Weg, nämlich sich Wünsche zu erfüllen, hat aber seine Tücken, denn oft sind die gesteckten Ziele zu hoch oder zu konsumorientert, das Ersehnte zu teuer oder die eigenen Fähigkeiten und die vorhandene Zeit einfach nicht ausreichend – und dann stellen sich statt Zufriedenheit Frust und Ärger bis hin zu Depressionen ein.

Weniger wollen – mehr sein

Warum also nicht den passiven Weg versuchen, der da heisst: passe deine Wünsche realistisch deinen Möglichkeiten an – und senke deine Ansprüche! Oder wie es der Schweizer Kapuziner Niklaus Kuster sagt: «Weniger Dinge und Wünsche schaffen mehr Bewegungsraum, weniger Gepäck macht leichtfüssiger, weniger Ablenkung macht achtsamer und weniger Termine lassen mehr Zeit für tiefere Beziehungen.» Zufriedenheit hat also auch etwas mit dem Annehmen dessen zu tun, was ist – statt ständig dem nachzujagen, was man noch alles haben müsste oder sein könnte. Das mag einigen Menschen als Resignation erscheinen, aber so beginnt Zufriedenheit. Kuster nennt das «das gute Weglassen» oder die Befreiung vom Diktat, um fast jeden Preis glücklich sein zu wollen.

Das ist zugegebenermassen nicht so leicht wie es tönt, denn wir alle sind geprägt von der Idee, dass nur mehr, grösser, schöner, exklusiver oder reicher glücklich macht. Doch dem ist nicht so, wie schon der chinesische Philosoph Lao Tse wusste. Nicht kurze, persönliche Hochgefühle sind seiner Ansicht nach das Ziel, sondern eine andauernde, auf der innere Einstellung dem Leben gegenüber beruhende Grundstimmung der Zufriedenheit. Um in diese Stimmung zu kommen, empfehlen östliche Weisheitslehren deshalb, sich regelmässig mit diesen fünf Punkten auseinanderzusetzen:

Gelassenheit üben – Lassen Sie Perfektionismus öfters links liegen. Lernen Sie, auch das weniger Perfekte, weniger Gloriose oder weniger Sensationelle zu schätzen.

Demut lernen – freuen Sie sich an dem, was ist, und machen Sie Ihr Wohlbefinden nicht von Dingen oder Ereignissen abhängig, die vielleicht nie kommen.

Nicht bewerten – manchmal sind es nicht die unerreichten Ziele, die uns am Zufrieden sein hindern, sondern die Art und Weise, wie wir diese bewerten.

Ziele überprüfen – wer immer «alles oder nichts» anstrebt, wird auch immer wieder scheitern, besonders in materiellen Dingen. Lohnender für die Zufriedenheit sind altruistische Ziele, die auf Gemeinschaft und Freundschaft ausgerichtet sind.

Anspruchshaltung aufgeben – egal, ob wir fleissig, freundlich, gläubig, arm oder reich sind – es gibt kein Recht auf Glück.

Gestern Abend habe ich das Loch in meinen Lieblingswollsocken, ein Geschenk meiner Mutter, nach langer Zeit endlich mit Nadel und Faden gestopft. Ich habe deswegen nicht vor lauter Glück geschrien, aber ich war mit mir zufrieden. Und als ich heute morgen die gestopften Socken endlich wieder anziehen konnte, war dieses Gefühl wieder da. So einfach kann es manchmal sein. 

 

Buchempfehlungen

Niklaus Kuster
«Weniger haben – mehr sein», Verlag Patmos, 2024

Christof Herrmann
«Das Minimalismus-Projekt – 52 praktische Ideen für weniger Haben und mehr Sein», Verlag Gräfe und Unzer, 2020

 

Haben Sie Fragen?

Markus Kellenberger begleitet Menschen auf der Reise ins Innere und beantwortet Ihre Fragen aus den Bereichen Leben, Liebe, Glaube und Spiritualität persönlich und ganzheitlich. m.kellenberger@weberverlag.ch

Zurück zum Blog

Hinterlassen Sie einen Kommentar