Immer mit der Ruhe

Unser Alltag ist hektisch geworden. Nie geht es schnell genug, alle wollen alles und zwar sofort – sonst verlieren wir die Nerven. Das zeigt sich im Strassenverkehr, am Arbeitsplatz und auch in Beziehungen. Es ist deshalb an der Zeit, sich an eine alte Tugend zu erinnern: die Geduld. Sie macht das Leben entspannter und senkt erst noch den Blutdruck.

Markus Kellenberger

Manchmal, da stehe ich in der Schlange an der Kasse, und möchte die Person, die vor mir Fünferli um Fünferli aus dem Portemonnaie klaubt, am liebsten erwürgen. Wenn ich dann, von der eigenen Gewaltfantasie erschreckt, in mich hinein höre, stelle ich fest: ich bin völlig gestresst – und das aus einem einzigen Grund: mir fehlt wieder mal die Geduld, etwas zu ertragen, was ich sowieso nicht ändern kann. An diesem Punkt kommt der Benediktinermönch und Buchautor Anselm Grün ins Spiel. Er sagt: «Geduld ist nicht ohnmächtiges Ertragen, sondern bewusstes Standhalten.» Für ihn ist Geduld deshalb keine Schwäche, sondern eine starke, innere Haltung, die es uns ermöglicht, mit dem Leben in seinen Widersprüchen, Wartezeiten und Anmassungen nicht nur zurechtzukommen, sondern daran auch zu reifen.

Ein Weg ins Erwachsenwerden

Wer sich literarisch mit dem Thema Geduld befasst, stösst irgendwann auf Goethes Faust. Er verkörpert in seiner Rolle die Ungeduld. Faust lehnt ab, was ist, hadert mit seinem Schicksal und will alles sofort. Um das zu erreichen, geht er den berühmten Pakt mit dem Teufel ein. Der italienische Religionsphilosoph Romano Guardini bezeichnete Faust deshalb auch als «den ewig Unerwachsenen». Denn Erwachsensein beginnt dort, wo wir die Wirklichkeit annehmen, so wie sie ist – mit allen ihren Zumutungen. Oder wie Anselm Grün es sagt: «Ich halte aus. Nicht aus Schwäche, sondern aus Kraft. Das ist Geduld.»

In der Geduldsforschung gilt die Fähigkeit, Frustration auszuhalten und kurzfristige Bedürfnisse zugunsten langfristiger Ziele aufzuschieben, als eine der entscheidenden Lebenskompetenzen. Resilienz, wie Geduld auch genannt werden kann, ist laut psychologischen Studien wie ein Muskel zu verstehen, der regelmässiges Training verlangt. Geduld ist in unserer Sofortkultur nämlich zur vernachlässigten Grösse geworden. Warten, Aushalten und Ertragen gilt als verlorene Zeit. Doch das ist falsch. Geduld ist nichts Altmodisches, sondern eine Form von innerer Intelligenz. «Wer sich mit Entscheidungen Zeit lässt, entscheidet oft besser», sagt der Jurist und Harvard-Professor Frank Partnoy und plädiert damit für mehr Geduld in unserer überreizten Welt.

Ein wirksamer Schutz gegen Stress

Das gilt natürlich auch fürs Private. Wir erleben das jeden Tag: der Bus kommt zu spät, das Kind macht nicht, was wir wollen, der Schnupfen dauert länger als gewünscht – und meistens reagieren wir darauf mit Ärger. Wer sich jedoch in Geduld übt, und sich der Situation stellt, ohne in Widerstand zu gehen, erlebt eine überraschende Entlastung. Geduld ist also nicht nur eine ethische Tugend, sondern auch ein psychologischer Schutzfaktor gegen unnötigen, selbstgemachten Stress.

Im Alltag besonders gefragt, ist Geduld im Umgang mit unseren Mitmenschen. In der Familie, im Team, in der Partnerschaft heisst Geduld aber nicht, alles zu akzeptieren, sondern auch dann in Beziehung zu bleiben, wenn es mal harzt. Wer mit den Schwächen anderer geduldig umgeht, schafft Raum für deren Entwicklung – und auch für die eigene. Die Psychologie spricht dabei vom Rollenspiel der «Perspektivenübernahme», was bedeutet: Wer versucht, sich in das Gegenüber einzufühlen und sich in der Auseinandersetzung auch mal – geduldig – zurückzunehmen, entwickelt nicht nur mehr Gelassenheit, sondern vertieft auch die Beziehung.

Selbstliebe und erwachsene Reife

Die Königsdisziplin in Sachen Geduld ist – die Geduld mit uns selbst. Immer wieder fassen wir doch gute Vorsätze, wie weniger impulsiv zu sein, weniger schnell aufzugeben oder eben geduldiger zu sein, nur um dann zu scheitern. Doch genau das gehört zum Prozess. Anselm Grün meint dazu: «Es braucht Geduld, zu erleben, dass die heiligsten Vorsätze in kurzer Zeit durch die Realität der eigenen Begrenzung ausser Kraft gesetzt werden können.» 

Aber genau die Fähigkeit, mit dieser inneren Diskrepanz freundlich umgehen zu können, sei ein Zeichen von erwachsener Reife. Man nennt das auch Selbstmitgefühl, ein wichtiger Schlüssel, um nicht ständig in Selbstkritik zu verfallen.

Geduld bedeutet also nicht, alles einfach hinzunehmen. Sie ist keine Einladung zum passiven, ohnmächtigen Erdulden, sondern zur klugen Entscheidung, die da heisst: Wann ist es Zeit, zu handeln – und wann ist es Zeit, loszulassen? In dieser feinen Balance liegt die eigentliche Kunst der Geduld. Der erste Schritt besteht darin, die eigene Ungeduld wahr- und anzunehmen – zum Beispiel in der Schlange vor der Kasse. 

 

Fünf kleine Geduldsübungen für den Alltag

  1. Wartezeiten sind ein Geschenk. Nutzen Sie die Zeit, in der Sie an der Kasse oder vor der roten Ampel warten müssen für ein paar bewusste, tiefe Atemzüge. Atmen Sie durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus.
  2. Beobachten Sie sich, wenn Sie ungeduldig werden. Horchen Sie in sich hinein und fragen Sie sich: ändert sich etwas, wenn ich die Geduld verliere?
  3. Achten Sie auf Ihre Sprache. Ersetzen Sie «ich muss» öfters mal mit «ich möchte», also zum Beispiel «ich möchte das schaffen» statt «ich muss das schaffen». Das senkt den Druck.
  4. Üben Sie sich im Zuhören. Nehmen Sie sich einmal am Tag die Zeit, um einem Menschen einfach nur zuzuhören, ohne ihn zu unterbrechen.
  5. Haben Sie Geduld mit sich selbst. Rückschläge sind kein Scheitern, sondern ein Teil des Weges.

 

Buchempfehlungen

Anselm Grün: «Was im Alltag gut tut – mehr als 30 Möglichkeiten, die das Leben leichter machen», Verlag Herder, 2021

Martha Schoknecht: «Nur Geduld – Geschichten und Gedichte über das Warten», Verlag Diogenes, 2024

 

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Markus Kellenberger begleitet Menschen auf der Reise ins Innere und beantwortet Ihre Fragen aus den Bereichen Leben, Liebe, Glaube und Spiritualität persönlich und ganzheitlich. m.kellenberger@weberverlag.ch

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