Sabine Hurni über das Lauschen

W elche Töne kommen Ihnen in den Sinn, wenn Sie an die Natur denken? Bitte noch nicht weiterlesen, sondern kurz innehalten. Es ist höchst faszinierend, wie viele dieser Klänge wir einfach so, auf dem Sofa sitzend, innerlich abrufen können. Das Rascheln der trockenen Blätter im Herbst. Das Knacken eines trockenen Astes. Das fröhliche Plätschern eines Baches oder das Tosen des Wasserfalls. Mir fällt auch das Summen der Insekten ein, das man hört, wenn es ganz still ist, rundherum. Oder der Wind, der die Blätter zum Klappern bringt. Das Meer, mit seinem regelmässigen Ein- und Ausatmen.

 
Auch Städte kann man lauschend erleben. Das Plätschern des Brunnens auf einem Platz, das Quietschen des Trams oder das fröhliche Stimmengewirr in einer Gartenwirtschaft. Das Aufwachen einer Stadt am Morgen mit Putzmaschinen, dem Tuten von rückwärtsfahrenden Lieferwagen und dem Besengeräusch des Putzens vor dem eigenen Laden. Das emsige Treiben während des Tages und dann die Nacht, mit ein paar wenigen Gestalten, die sich etwas zurufen. Wer lauscht, nimmt den dominanten Augen die Macht und lässt den Alltag ganz neu erleben. Wer lauscht, macht nichts anderes als gespannt zu zuhören. Sei es an einem Konzert, bei einem Vortrag oder im Gespräch. Nichts ist so wertvoll wie ein Mensch, der zuhört. Ein Mensch, der den Ausführungen seines Gegenübers folgt, und nicht nur auf den Moment wartet, um selbst das Gespräch an sich zu reissen.

Das Lauschen ist die Fähigkeit zu hören und dies wiederum ist die Fähigkeit zur Kommunikation. Denke man nur an das Vier-Ohren-Modell von Schulz von Thun. Seine Kommunikationspsychologie basiert auf der Annahme, dass jede Nachricht unter vier Aspekten gehört werden kann: Als Sachinhalt, als Selbstoffenbarung, als Appell oder auf der Beziehungsebene. Das macht die zwischenmenschliche Kommunikation so ungemein kompliziert. Nicht aber das Lauschen. Denn Lauschen ist wertfrei – sofern es nicht gerade an der Tür oder an der Wand stattfindet, um ungesehen eine Unterhaltung mitzubekommen.

Kürzlich war ich so sehr mit Lauschen beschäftigt, dass ich dabei fast den Zug verpasst hätte. Ich lauschte einer Unterhaltung zwischen Sehbehinderten und ihren Begleitpersonen. Es ging dabei um eine App, die «Be My Eyes» heisst und sehende Freiwillige mit Blinden und sehbehinderten Menschen verbindet. Die Person mit einer Sehschwäche kann einen Live-Video-Anruf tätigen, eine Person aus dem grossen Pot an Freiwilligen nimmt den Anruf entgegen und hilft bei Alltagsproblemen. Beim Suchen eines verlorenen Gegenstandes, bei der Auswahl von Kleidungsstücken, bei der Kontrolle, ob das Licht an- oder ausgeschaltet ist, ob ein Lebensmittel abgelaufen ist oder um sich in einer neuen Umgebung zu orientieren.

Während ich so am Mitlauschen war, wurde mir bewusst, wie genial gewisse technische Hilfsmittel doch sind. Menschen helfen gerne und fühlen sich regelrecht beglückt, wenn sie helfen können. Laut der Webseite von «Be My Eyes» sind so viele freiwillige Sehende angemeldet, dass die Chance, ein Video-Anruf entgegenzunehmen und einer blinden Person seine Augen zu leihen, relativ klein ist. Während ich mich für einige Minuten unverhofft mit dem Thema Blind-Sein beschäftigte, erinnerte ich mich auch an ein Erlebnis im Restaurant «Blinde Kuh» in Zürich. Es handelt sich um ein Restaurant, das von blinden Menschen geführt wird. Der Speisesaal ist stockdunkel. Wer nichts sagt, wird nicht wahrgenommen und beim Einschenken des Wassers oder des Weins, muss man einen Finger ins Glas stecken – Profis können natürlich aufgrund des Gewichts abwägen, ob das Glas voll genug ist.

Jedenfalls empfand ich den Abend in der «Blinden Kuh» wahnsinnig laut. Aufgrund des Nicht-Sehen-Könnens schienen meine Ohren sich doppelt und dreifach anzustrengen, um mich orientieren zu können, Halt im Raum zu finden und dieses Zurückgeworfen sein auf sich selbst zu bewältigen. Die Ohren schlugen regelrecht Alarm. Sie waren am Lauschen – aber nicht auf die versunkene, selbstvergessene Art, sondern zum Wahren der Kontrolle. Die Gespräche am Nebentisch drangen genau gleich intensiv in meine Ohren wie jene an unserem Tisch. Vielleicht sprachen die Leute unbewusst lauter – aus Unsicherheit oder Angst vor der Dunkelheit. Ohne Augen konnte ich nicht fokussieren und ohne Fokus war alles gleichwertig.

Beim Lauschen hingegen konzentriere ich mich auf eine einzige Sache. Ich setze den Fokus auf ein Geräusch oder einen Klang. Oder auch nichts von beidem – dann, wenn man in die Stille lauscht. Dem Dazwischen. Zwischen zwei Tönen oder Geräuschen. Diese Stille liebe ich über alles. Es ist, als ob die Zeit stehen bleiben würde. Als ob für einen Moment Alles und Nichts miteinander verschmelzen. Bei der Meditation entsteht ein solcher Moment nach dem Ausatmen und vor dem Einatmen. Je länger diese Atempause dauert, desto länger kann man der Stille lauschen, desto ruhiger wird der Geist und desto mehr Zeit ist da fürs Nicht-denken.

Kein Moment eignet sich besser, um nach innen zu lauschen. Um wahr zu nehmen, was Freude bereitet, und was losgelassen werden kann mit dem nächsten Ausatmen. Lassen Sie uns wieder mehr lauschen, denn lauschen können wir nur, wenn wir still sind. Wer sich selbst in der Stille begegnet, kann die feinen, kleinen Botschaften hören, die das Universum des Unterbewusstseins für uns bereithält.

 

Sabine Hurni arbeitet als Naturheilpraktikerin und Lebensberaterin in Baden, wo sie auch Ayurveda Kochkurse, Lu Jong- und Meditationskurse anbietet.

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