Die Mutter aller Kräuter

Balsamisch duftende Räucherpflanze und Frauenheilmittel der Göttin Artemis. Beifuss – die sakrale Pflanze des Nordens begleitet uns seit der Steinzeit.

Yves Scherer

Etwa zweihundert Personen sitzen in einem grossen Kreis im Versammlungshaus einer indigenen Gemeinde in Kanada. Versammelt sind Angehörige, Freund*innen und Bekannte eines vor kurzem verstorbenen Familienvaters aus dem Bärenclan der Ojibway. Neben dem Kreis liegt der Verstorbene in einem schlichten Holzsarg aufgebahrt. Nach der katholischen Messe wird eine grosse Trommel hereingetragen. Einige junge Männer setzen sich um die Trommel und das Versammlungshaus beginnt im Herzschlag von Mutter Erde zu pulsieren. Die Männer singen mit lauter Stimme emotionsgeladene indianische Lieder, die mir Hühnerhaut bescheren.Währenddessen wird im Kreis die heilige Pfeife herumgereicht und jemand geht mit einem Räucherstab aus Beifusszweigen herum. Jung und Alt beugen sich über das glühende Bündel und fächeln sich den aromatischen Rauch übers Gesicht. Eine alte Dame in traditioneller Tracht streicht sich den Rauch über ihre langen, grauen Zöpfe, während sie leise ein Gebet spricht.

Das mächtige Kraut

Der Name der Gattung Artemisia entstammt der griechischen Mythologie. Die jungfräuliche Göttin Artemis, Tochter des Zeus, ist die Hüterin des Waldes und der freien Natur. Als Göttin der Jagd, des Mondes und der Geburt beschützt sie die wilden Tiere, die Frauen und die Kinder. Die alte Bezeichnung Mugwurz stammt aus dem Germanischen und bedeutet «mächtiges Kraut».

Im Mittelalter kannte man die Pflanze als Biboz (zerstossenes Kraut), woraus sich der heutige deutsche Name Beifuss ableitet. Er bezieht sich auf den Brauch, die weichen Blätter in die Schuhe zu legen, um beim Marschieren nicht so schnell müde zu werden. Die allgemein kräftigende Wirkung des Beifusses beschrieb auch der Römer Plinius der Ältere. Von ihm stammt die Empfehlung, zur Stärkung den Körper mit dem Saft der Pflanze einzureiben.

Die zähe Pionierpflanze aus der Familie der Korbblütler (Asteraceae) gedeiht vor allem in den trockenen Steppen Asiens und Nordamerikas. Hierzulande trifft man sie vereinzelt am Waldrand, auf Brachen oder im Stadtpark. Sie lässt sich gut im Garten ziehen.

Etwa 500 Arten sind botanisch gesichert, darunter:

  • Eberraute, Artemisia abrotanum Auch bekannt als Cola-Kraut
  • Wermut, Artemisia absinthium Ein wichtiges Bittermittel der Phytotherapie und bekannt vom Schnaps «Absinth» (grüne Fee)
  • Einjähriger Beifuss, Artemisia annua Seit 2000 Jahren in der chinesischen Medizin gebräuchlich, in der EU seit 2018 verboten
  • Steppenbeifuss, Artemisia ludoviciana Für indigene Völker der nordamerikanischen Prärie eine heilige Ritualpflanze
  • Chinesischer Beifuss, Artemisia sinensis Wird in der Moxa-Therapie verwendet

Alle Artemisia-Arten haben einen warmen, trockenen Charakter. Zerreibt man die Blätter, wird ein balsamischer Duft frei, der warm und vertraut wirkt. Auf der Oberseite sind die Blätter dunkelgrün, auf der Unterseite silbergrau, die Stängel teilweise oder ganz rötlich überlaufen. Im Hochsommer entwickelt die Pflanze kleine, silbergraue Blüten. Das Kraut hat einen aromatischen, leicht bitteren Geschmack. In ihm scheint die Energie der Sonne gespeichert zu sein.

Die wichtigste Ritualpflanze der nördlichen Hemisphäre

Seit der Steinzeit werden Artemisiapflanzen für kultische und medizinische Zwecke verwendet. Die aromatisch duftenden Kräuter sind das wichtigste Räuchermedium schamanischer Kulturen des Nordens. Mit Beifuss wird geräuchert, um negative Energien abzuwehren und Personen, Gegenstände und Räume zu reinigen. Beim Räuchern von Innenräumen sollte immer ein Fenster offenstehen, damit eine Öffnung nach aussen besteht. Mit einem Wisch aus Beifusszweigen werden sakrale Gegenstände, Schmuck und Waffen abgerieben und Zeremonialräume ausgekehrt. Im antiken Rom galten Beifusskränze als schutzmagischer Hausschmuck.

In der germanisch-keltischen Tradition wird die Beifusspflanze – wie auch das Johanniskraut – zum Mittsommerfest als ritueller Schmuck verwendet. Dazu werden die Zweige zu einem Gürtel geflochten und von Frauen um die Hüfte getragen. Dieser Sonnwendgürtel soll die Lust am Leben befeuern und die Fruchtbarkeit stärken. Zum Ende der ausgelassenen Sommerparty wirft die Frau den Gürtel ins Feuer und mit ihm alles, was sich schwer anfühlt und nicht mehr dienlich ist.

Moxa-Therapie

Bei der Moxibustion (kurz: Moxa) der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) werden glimmende Beifusszigarren über blockierte Meridianpunkte gehalten. Die Gluthitze des Beifusses löst die Blockaden und die Lebensenergie Chi kann wieder frei fliessen. Die Anwendung von glühenden Kräutern zur Behandlung von chronischen Schmerzen, steifen Gelenken oder Lähmungen geht wohl bis in die Steinzeit zurück. Auch die Akupunktur entstammt wohl demselben archaischen Ursprung.

Das universelle Frauenheilmittel

Die bis zu drei Meter hohe Pflanze wurde bei den German* innen als Mutter aller Kräuter verehrt. Noch im Mittelalter trug sie den Beinamen Herbarum mater. Neben dem Frauenmantel (Alchemilla vulgaris) ist Beifuss wahrscheinlich die wichtigste Heilpflanze für Frauen. Zur Förderung der Menstruation helfen eine mehrwöchige Teekur und Sitzbäder in Beifuss-Sud, zum Beispiel wenn nach dem Absetzen der Antibabypille die Monatsblutung ausbleibt. Die Pflanze regt die Produktion glandotroper Hormone in der Hypophyse an und kann auch bei ausbleibendem Kinderwunsch von Nutzen sein. Wenn sich während einer Beifusskur ein unangenehmer Körpergeruch bemerkbar macht, ist das ein Hinweis darauf, dass entgiftende Reinigungsprozesse eingesetzt haben. Vor und während des Geburtsprozesses kann Beifuss wertvolle Hilfe leisten. Wenn sich die Kinder im Mutterleib nicht im gewünschten Zeitraum in die vorteilhafte vordere Hinterhauptslage drehen, nutzen Hebammen Moxa, um die Gebärmuttermuskulatur anzuregen. Die so ausgelösten Kontraktionen können das Ungeborene veranlassen, sich zu drehen. Die werdende Mutter kann halbstündlich einen Beifussextrakt zu sich nehmen, um die Wehen anzuregen und damit der Muttermund sich leichter öffnet. Ist die Geburt glücklich überstanden, helfen Beifuss-Anwendungen, dass sich die Plazenta löst.

Sammeltipps

Das aufblühende Kraut wird im Juli gesammelt. Sein lieblich-aromatischer Duft verbreitet eine angenehme Stimmung. Die Pflanze enthält ätherische Öle (Campher und Thujon), Bitterstoffe, Flavonoide, Cumarine und viele weitere Wirkstoffe. Für einen Tee, eine Abkochung oder einen Kaltwasserauszug nutzt man frisches oder getrocknetes Kraut, welches vor der Vollblüte gesammelt wird. Die Blätter lassen sich entgegen der Wuchsrichtung leicht von den Seitenästen abstreifen und an einem staubfreien Ort am Schatten trocknen. Am liebsten hänge ich die Zweige in Bündeln in einem Wohnraum auf, wo sie während des Trocknens ihren angenehmen Duft verströmen.

Wirkung

Während der Corona-Pandemie erhöhte sich der Absatz von Fertigpräparaten aus Artemisia annua erheblich. Diese Beifuss-Art ist seit langem für ihre parasitenabtötende Wirkung bekannt. Die Heilpflanze wird seit den 1970er-Jahren erfolgreich zur Vorbeugung und Behandlung von Malaria eingesetzt. Möglicherweise beugt sie der Infektion durch Corona- und anderer Viren vor und hilft, als Tee, Tinktur oder Fertigpräparat eine Infektion schneller auszuheilen. Ausserdem wirkt die Heilpflanze antimikrobiell, antimykotisch, appetitanregend, blähungswidrig, krampflösend, galle- und harntreibend, entgiftend, den Fettstoffwechsel unterstützend, menstruationsfördernd, wehenfördernd und kreislaufanregend.

Anwendungenstipps

Beifuss-Teekur zur Förderung der Monatsblutung

Für einen Krug Beifusstee eine handvoll Blätter oder blühende Zweigspitzen mit heissem Wasser überbrühen, 10 bis 15 Minuten ziehen lassen und täglich 3 bis 4 Tassen trinken. Je länger die Regel ausgeblieben ist, desto länger dauert es, bis die erwünschte Wirkung eintritt.

Vorsicht: Schwangere dürfen Beifuss nicht einnehmen! Die Pflanze kann abortiv wirken.

Kulinarik

Frische oder getrocknete Beifussblätter verleihen jedem Gericht ein leicht herbes Aroma und helfen, fetthaltige Speisen besser zu verdauen. Die traditionelle Weihnachtsgans wird mit Beifusskraut gestopft.

Räucherstäbe binden

Die Seitenäste der Pflanze werden vom Stamm abgebrochen und zu gleich langen Stücken eingekürzt. Die Ästchen werden in Bündeln zu neun oder zwölf Stück kopfüber aufgehängt. Nach zwei bis drei Tagen ist das Kraut angetrocknet und die Bündel werden mit einer Schnur aus Naturfasern spiralförmig fest eingebunden. Das Aroma kann variiert werden durch Zusatz von Rosmarin, Thymian, Salbei, Dost, Lavendel, Johanniskraut oder Wacholder.

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