Der Brotbaum unserer Vorfahren

Die mächtige und ausdauernde Eiche wurde einst als lebensspendendes Heiligtum verehrt. Sie ernährte die Sippe, lieferte Medizin und bestes Baumaterial. Im Kampf gegen den Klimawandel und das Artensterben ist sie heute und in Zukunft von grosser Bedeutung.

Yves Scherer

An einem Spätsommertag in Berlin will ich den ältesten Baum der Stadt besuchen. Alexander und Wilhelm von Humboldt, die im nahen Tegeler Schloss aufgewachsen sind, haben in ihren Kindheitstagen die stattliche Eiche nach ihrer Köchin benannt – der «Dicken Marie». Der Name ist geblieben. Der Baum auch. Seit über 800 Jahren steht er im Tegeler Forst und ist somit älter als die deutsche Hauptstadt.

Der knorrige Baum wirkt wie ein eingefrorenes Wesen aus einer fernen Zeit. Seine krummen Arme in alle Richtungen gereckt, die Gelenke steif, die Augen blind, die Borkenhaut von vergangenen Jahrhunderten gegerbt. Zweifellos ist die «Dicke Marie» ein schützenswertes Naturdenkmal. Ihr hohes Alter relativiert meinen Begriff von Lebenszeit. Wie ich den uralten Baum so betrachte, stelle ich mir vor, was er wohl alles erlebt hat. Könnte ich die Zeit zurückdrehen – in immer schnellerem Tempo – würden die Jahreszeiten vorbeirauschen. Frostklirrende dunkle Winter- und blendend helle Sommermonate in raschem Wechsel. Schnee fällt, Eis schmilzt, Schmetterlinge tänzeln im Morgenlicht über die Waldlichtung, Wind zerrt an den Ästen, Blitz und Donner lassen die Nacht aufleuchten, ein Bauernmädchen sammelt heruntergefallene Eicheln, Wildschweine wühlen den Boden um, der Dichterfürst Johann Wolfgang von Goethe döst im Schatten des Baumes.

Zeit ist relativ. Und ich, der ich hier sitze und den Baum betrachte, werde eine vergleichsweise kurze Zeit auf Erden weilen. Was ist schon die Zeitspanne eines Menschenlebens aus der Perspektive einer Eiche?

Der Lebensbaum

Für die Artenvielfalt sind Eichen besonders wertvoll. Mit zunehmendem Alter fallen abgestorbene Äste zu Boden und vermodern dort. Totholz zählt zu den artenreichsten Lebensräumen. Es dient vielen Insekten als Nahrung, Versteck und Baumaterial. Aktuellen wissenschaftlichen Studien zufolge leben auf einer Eiche bis zu tausend Insektenarten – eine reiche Futterquelle für Vögel und Fledermäuse. Von den Eicheln ernähren sich viele Tiere, allen voran das Wildschwein. Das Leben des Eichhörnchens, des Eichelhähers und des Grossen Eichenbocks (ein eindrücklicher, glänzend schwarzer Käfer) ist stark mit der Eiche verbunden. So stark, dass sich sogar ihre Namen auf den Wirtsbaum beziehen.

Eichen können 30 bis 40 Meter hoch und über tausend Jahre alt werden. In Regionen mit kalten Wintern werfen sie ihr Laub ab. Die im warmen Mittelmeerraum beheimatete Korkeiche dagegen ist immergrün. Die gemischtgeschlechtlichen Bäume entwickeln einen starken Stamm und tiefgründige Wurzeln, die den Baum gut verankern. Die dicke Borke schützt vor Hitze und Kälte. Durch den dichten Wuchs und den hohen Gerbstoffgehalt ist das Holz der Eiche fest und langlebig. 

Der Eisenbahn zum Opfer gefallen

Eichenholz ist ein hervorragendes Baumaterial. Für den Schiffbau und die Erstellung des Eisenbahnnetzes wurden in ganz Europa abertausende Eichen gefällt. Das hat zu einem massiven Rückgang der Bestände geführt. Die intensive wirtschaftliche Nutzung der Wälder verschärfte die Situation zusätzlich. Wo einst artenreiche Laubmischwälder mit vielen eindrücklichen Baumriesen unsere Landschaft prägten, stehen heute sterile Monokulturen aus schnellwachsenden Wirtschaftsbäumen wie Fichte oder Kiefer. Doch die Eiche erlebt gerade ein Comeback. Zusammen mit anderen Laubbäumen soll sie den Wald klimaresistenter machen. Laubmischwälder sind struktur- und artenreicher, speichern mehr Wasser und Kohlendioxid als Wirtschaftsforste. Das Schweizer Bundesamt für Umwelt BAFU nennt als oberste Ziele ihrer Waldpolitik die nachhaltige Bewirtschaftung, die Minderung des Klimawandels und den Erhalt der Biodiversität.

Auch um die «Dicke Marie» herum findet ein Wandel statt. Auf dem Stadtgebiet Berlins sollen in den nächsten Jahren 500 000 Laubbäume gepflanzt werden – dreihundert Hektar jährlich. Das sind gute Nachrichten!

Symbolik und kulturelles Erbe

Die symbolischen Attribute der Eiche sind universell. Sie wurde als nährende Mutter verehrt, die Schutz und Gastfreundschaft bietet. Der standhafte, ausdauernde Baum verkörpert Urkraft, Verlässlichkeit und Treue. In der Mythologie der alten Völker Europas war er die lebendige Verbindung zwischen Erde und Himmel, der Weltenbaum, das Tor zum Licht. Im keltisch-germanischen Kulturkreis wurden Gerichtsverhandlungen und das «Thing», die Ratsversammlung der Stammesältesten, Priester*innen und Weisen unter der heiligen Eiche abgehalten. Hier durfte nur die Wahrheit gesprochen werden, sonst würde die Gemeinschaft Schaden nehmen.

Die alte Bezeichnung «Brotbaum» verweist auf die grosse Bedeutung der Eiche als Nahrungs- und Futtermittelquelle. Auch die Buche und die Kastanie wurden als Brotbaum bezeichnet. Für die kleinbäuerlichen Gemeinschaften waren alle drei Arten aus der Pflanzenfamilie der Buchengewächse (Fagaceae) lebenswichtig. Die botanische Bezeichnung entstammt dem lateinischen Wort «fagus» bzw. dem griechischen «phegos» und bedeutet «essbar».

Eicheln geniessbar machen

Eicheln enthalten einen hohen Anteil an Kohlenhydraten, ungesättigten Fettsäuren und B-Vitaminen. Anders als oft vermutet wird, sind Eicheln nicht giftig. Wegen des hohen Gerbstoffgehaltes sind die rohen Früchte aber ungeniessbar und müssen erst verarbeitet werden.

Gesammelt werden die reifen braunen Eicheln, die im Herbst zu Boden gefallen sind. Die besten Sammelmonate sind Oktober und November. Um sie essbar zu machen, müssen die Eicheln zuerst zwei bis drei Tage getrocknet werden. Dann lassen sich die Schalen und Samenhäute besser entfernen. Anschliessend werden die Früchte zerstossen und mehrere Tage in Wasser eingelegt.

Durch den Austritt der Gerbstoffe verfärbt sich das Wasser braun und sollte regelmässig ausgewechselt werden. Sobald sich das Wasser nicht mehr verfärbt, können die Eicheln weiterverarbeitet werden.

Eichelmehl und Eichelkaffee

Die zerkleinerten, ausgelaugten Eicheln können frisch oder getrocknet in einem Mörser oder in einer Mühle zu Mehl gemahlen werden. Das so entstandene Eichelmehl ist glutenfrei und lässt sich wegen der fehlenden Bindungsstoffe nur schwer zu einem Teig kneten. Wenn das Eichelmehl nicht mit einem Getreidemehl gemischt werden soll, kann nochmaliges kurzes Wässern und anschliessendes Auspressen in einem Stoffbeutel die Teigbildung fördern. Den ausgepressten Saft nicht wegschütten, denn er schmeckt erfrischend süsslich und ist reich an Nährstoffen. Eichelbrot schmeckt ähnlich wie Roggenbrot.

Werden die fein zerstossenen Eicheln geröstet und mit heissem Wasser überbrüht, erhält man ein koffeinfreies Heissgetränk – den Eichelkaffee.

Heilwirkung

In der Pflanzenheilkunde hat die Eiche (Quercus) ihren festen Platz. Die abgeschälte Rinde der jungen Triebe weist einen hohen Gerbstoffgehalt auf, der nur von der Blutwurz (Potentilla erecta) übertroffen wird.

Eichenrinde ist ein hervorragendes Wundheilmittel. Sie wirkt zusammenziehend und entzündungswidrig. Eine Waschung mit Eichenrindentee kann zur Pflege von nässenden Ekzemen, Hämorrhoiden, schlecht heilenden Wunden, frischen Operationsnarben, zur Stillung kleinerer Blutungen und gegen Mykosen eingesetzt werden. Bei der innerlichen Einnahme gegen Durchfall und Verdauungsbeschwerden ist Vorsicht geboten. Zu hohe Dosen können die Magenschleimhaut reizen oder Brechreiz erzeugen. Wer es trotzdem versuchen will, kann dem Tee Malvenblüten zufügen. Die darin enthaltenen Schleimstoffe bessern die Verträglichkeit.

Eichenrindentee

1–2 Teelöffel Eichenrinde mit 1/4 Liter kaltem Wasser übergiessen und zum Sieden bringen. 3–5 Minuten kochen lassen, abseihen. Zur kurzfristigen innerlichen Anwendung genügen zwei Tassen pro Tag.

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