Versöhnung mit dem inneren Richter

Niemand ist so streng, gnadenlos und unerbittlich mit uns – wie wir selbst. In allen möglichen Lebenslagen meldet sich eine Stimme, die uns sagt, dass wir nicht gut genug sind, die alleinige Schuld daran tragen und uns gehörig dafür schämen sollten. Es ist an der Zeit, diesem inneren Richter entgegen zu treten.

Markus Kellenberger

Immer wenn im Leben etwas so richtig schief geht, uns etwas Dummes über die Lippen rutscht oder wir vor aller Augen mit der vollen Kaffeetasse ins Stolpern kommen, dann ist sie blitzartig da, diese Stimme aus dem Innern, die uns in deutlichen Worten zu verstehen gibt, was sie von uns hält – nämlich so ziemlich nichts. Der innere Richter, es gibt ihn übrigens in allen denkbaren Geschlechtern, kennt keine Gnade. «Schuld bist du», urteilt er und verhängt auch gleich die Strafe: «Schäm dich!» Wir alle kennen solche Situationen.

Es ist wie ein böser Fluch, der uns immer wieder diese Stimmen in den Kopf zaubert. Da gibt es zum Beispiel die perfektionistische Stimme, die extrem hohe, aber unerfüllbare Erwartungen an uns stellt, sei es an unser Aussehen oder an unsere Leistung. Flankiert wird sie gern von der kritischen Stimme, die uns ständig wissen lässt, dass wir hinten und vorne nicht genügen und weder Liebe noch Wertschätzung verdient haben. Und dann kommt noch die dazu, die uns sagt, wir sollten uns mehr anstrengen, mehr Sport treiben, gesünder essen und, und, und. Das wahrlich hinterhältige und geradezu perfide an diesen Stimmen aber ist: Sie geben keine Ruhe – egal, was wir tun.


Wie wir uns selbst strafen

Alle diese Stimmen haben Macht über uns. Sie haben sich bereits in unserer Kindheit als falsche Glaubenssätze eingebrannt und sind uns so vertraut, dass wir ihnen nicht nur jedes Mal zuhören, sondern auch noch glauben, was sie über uns erzählen. Genau das hält uns in diesem ewigen Kreislauf von Schuld und Scham fest – und darum ist es jetzt Zeit für ein kleines Gedankenexperiment. Stellen Sie sich vor, Sie treffen einen Menschen, den Sie gut mögen. Dieser Mensch erzählt Ihnen von einem Missgeschick, das ihm peinlich ist oder sehr leid tut. Was würden Sie nun zu diesem Menschen sagen? Tröstend oder kritisierend? Machen Sie eine kleine Pause, dann stellen Sie sich vor, Ihnen wäre etwas Ähnliches passiert. Was würden Sie zu sich selbst sagen? In welchem Tonfall? Tröstend oder kritisierend?

Wenn ich in einer Gesprächsrunde am Feuer diese Frage stelle, sind die Antworten meistens eindeutig: Wir sind zu uns selbst deutlich härter als zu anderen Menschen. Warum nur? Warum sind wir uns selbst gegenüber nicht ebenso mitfühlend wie einer guten Freundin oder einem Freund gegenüber? Und die noch viel wichtigere Frage lautet: Können wir daran etwas ändern? «Yes we can.» Aber einfach ist es nicht, denn: Diese Stimmen sind im Verlauf unseres Lebens zu festen Persönlichkeitsanteilen geworden. Mit einem Fingerschnippen werden wir sie deshalb nicht los, auch wenn uns das am liebsten wäre. Was es braucht, um den inneren Richter in seine Schranken zu weisen, ist eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den seinen Urteilssprüchen zu Grunde liegenden Glaubenssätzen.


Muss ich das glauben?

Sich aus der Umklammerung dieser Glaubenssätze zu befreien, ist kein Spaziergang, aber unmöglich ist es nicht. Ich schlage deshalb ein zweites Experiment vor. Was Sie dazu brauchen, ist ein ruhiger Ort, eine halbe Stunde Zeit, ein Blatt Papier und einen Stift. Schliessen Sie die Augen, atmen Sie ein paar Mal tief durch und laden Sie den inneren Richter, dem Sie normalerweise ja lieber nicht begegnen wollen, freundlich ein, sich zu Ihnen zu setzen. Begrüssen Sie ihn wohlwollend, neugierig und mitfühlend, denn er hat keinen einfachen Job. Erkundigen Sie eine Weile gemeinsam die typischen Urteile, die der innere Richter immer wieder fällt, und bei welchen Gelegenheiten er das tut. Schreiben Sie einige seiner Verdikte auf und beenden Sie diese bestimmt nicht leichte Begegnung. Lassen Sie einige Zeit verstreichen und schauen Sie sich diese Urteile mit genügend Abstand nochmals an und fragen Sie sich dabei: Muss ich das glauben? Haben diese Urteile vielleicht sogar einen wahren Kern?


Der erste Schritt zum Frieden

Der innere Richter wird nach dieser Begegnung natürlich nicht einfach klein beigeben und weiter wie gewohnt seine unangenehmen Kommentare abgeben. Aber: Sie sind sich einem Prozess bewusst geworden, der wie ein inneres Programm bei passenden Gelegenheiten automatisch ausgelöst wird – und ebenso automatische Reaktionen wie Schuld und Scham hervorruft. Solche Prozesse begleiten uns seit unserer Kindheit und prägen damit bis ins Erwachsenenleben unser Selbstbild.

Wichtig ist, dass man allein oder mit der Unterstützung anderer Menschen beginnt, sich und den inneren Richter in einem anderen Licht zu sehen. Je mitfühlender wir uns den inneren Stimmen annähern, desto eher entdecken wir den Ursprung, der ihnen zu Grunde liegt und sie antreibt. Dabei darf nicht vergessen werden: Auch Persönlichkeitsanteile, die uns das Leben schwer machen, wollen gesehen, verstanden und respektiert werden. Wenn wir das schaffen, ändert sich nicht nur unser Selbstbild – sondern wir machen auch den ersten Schritt hin zur Versöhnung mit dem inneren Richter.

 

 

Haben Sie Fragen?

Markus Kellenberger begleitet Menschen auf der Reise ins Innere und beantwortet Ihre Fragen aus den Bereichen Leben, Liebe, Glaube und Spiritualität persönlich und ganzheitlich. m.kellenberger@weberverlag.ch

 

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