Mit Vollgas in die Kurve

Finden Sie auch, dass die Zeit immer schneller vergeht? Falls ja, dann liegt das vielleicht an Ihrem Alter – oder daran, dass die Zeit wirklich schneller vergeht als früher. Gefühlt stimmt das, denn es sind immer mehr Aufgaben, die wir im Alltag unterbringen wollen, doch auf Dauer macht das krank. Da hilft nur eins: weniger ist mehr – aber wer hat schon die Zeit dazu?

Markus Kellenberger


Vereinfacht ausgedrückt besagt die Relativitätstheorie folgendes: Je schneller ich mich in Relation zu etwas bewege, desto langsamer vergeht für mich die Zeit; und umgekehrt, je langsamer ich mich in Relation zu etwas bewege, desto schneller vergeht für mich die Zeit. Alles klar? Falls nicht, ist das auch egal, denn in Ihrem Alltag spüren Sie die Auswirkungen der Relativitätstheorie nicht wirklich. Der Zug fährt Punkt sowieso ab, egal, ob Sie nun zum Bahnhof rennen oder schlendern, um ihn zu erwischen. Also lassen wir die Physik und wenden wir uns dem Wesen der Zeit zu. Das allein ist schon kompliziert genug, denn in einem Punkt hatte Albert Einstein für alle leicht verständlich recht: Zeit ist etwas Relatives. Manchmal vergeht sie zu schnell, manchmal zu langsam, und ist man mal so schön im Flow, dann ist es, als gäbe es sie nicht. Wir sehen, riechen oder hören sie nicht, und falls Sie nun glauben, sie wenigstens spüren zu können, dann ist das reine Einbildung. Wir spüren vielleicht die quälende Langeweile, den drückenden Stress oder das Alter – nicht aber die Zeit.


Das Zeitgefühl verändert sich

Allerdings ist in Bezug auf das Alter eine wichtige Erkenntnis festzuhalten: Je älter wir werden, desto schneller vergeht die Zeit tatsächlich. Gefühlt zumindest. Forschende an der Duke University in den USA haben herausgefunden, warum das so ist. Das Neuronen- und Nervennetz im Hirn wächst mit jedem Lebensjahr und wird deshalb immer grösser und komplexer. Verglichen mit einer Bibliothek bedeutet das: Man muss in immer mehr Gängen und Regalen nach dem richtigen Buch oder der richtigen Ablage suchen – und das braucht halt seine Zeit und hinterlässt den Eindruck, der Tag sei wieder mal viel zu schnell vergangen, um all das zu bewältigen, was man sich am Morgen noch vorgenommen hat.

Einen anderen Ansatz bringt Marc Wittmann vom Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene an der Universität Freiburg in Deutschland in die Diskussion  ein. In seinen Studien beschäftigt ihn nicht der physiologische Unterschied zwischen jungen und alten Menschen, sondern ihn interessiert, warum losgelöst vom Alter immer mehr Menschen denken, dass die Zeit immer schneller vergeht. Für Wittmann steht fest: Es liegt allein an unserem Lifestyle, der zunehmend von digitalen Technologien geprägt ist. Ständig und überall sind wir erreichbar, suchen dauernd nach Informationen und Optimierungsmöglichkeiten, steigern von morgens bis abends die Effizienz, drücken und prügeln noch dies und das in den Alltag und lassen die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit, in der wir uns erholen sollten, immer mehr verschwinden.


Der übervolle Kalender

Aber was heisst heute schon Freizeit? Was da mittlerweile nicht alles Platz finden muss. Me-time, Child-time, Partner-time, Friends-time, Raus-in-die-Natur-time, Weiterbildungsseminare, spirituelle Selbstoptimierungswochenenden, Haushalt, einkaufen, putzen, kreativ sein, nach dem Fitness noch einen Tantra-Kurs belegen, dabei ständig auf den Social-Media-Kanälen checken, was die anderen grade machen und Fotos hochladen, auf denen wir glücklich, entspannt und erfolgreich aussehen … schliesslich haben wir die Karriere, das Leben, das Lieben und vor allem die Zeit voll im Griff. Ungebremstes fahren auf der Überholspur, könnte man das auch nennen. Dumm nur, dass wer ständig ungebremst durchs Leben saust, riskiert, irgendwann mal aus der Kurve zu fliegen. Und genau das passiert zunehmend mehr Menschen. Schleichend fängt das mit körperlichen Beschwerden wie beispielsweise Bluthochdruck an. Doch dagegen gibt es Medikamente, Thema abgehakt, also weiter im Takt und dem drohenden Infarkt rennt man dann mit einem zusätzlichen Marathon davon, den wir – vom Training bis zur Ziellinienüberquerung – minutiös auf Insta dokumentieren und liken lassen. In was für einer verrückten Welt wir doch leben.


Ausstieg aus der Sucht

Neben den körperlichen sind es aber auch die psychischen Symptome, die uns in aller Deutlichkeit zeigen, dass wir als Gesellschaft insgesamt zu rasant unterwegs sind. Rund ein Viertel von uns, traurigerweise zählen Kinder hier dazu, leiden mittlerweile an unterschiedlichsten Formen von Depressionen, Angststörungen und  Erschöpfungszuständen, Tendenz steigend. Die Statistiken des BAG und der Krankenkassen sind erbarmungslos und deren Kernaussage ist klar: Wir halten das von uns verlangte Tempo am Arbeitsplatz und in der Freizeit auf Dauer einfach nicht unbeschadet aus.

Was dagegen hilft? Es ist so banal, dass ich mich fast schäme, es hier zu schreiben: Setzen Sie sich einen Sonntagnachmittag lang allein und ohne Handy einfach an einen Waldrand  – und wenn Sie jetzt denken, «ist das alles», dann versuchen Sie es. Nach spätestens einer Stunde wird die Zeit zäh wie Melasse – und für die meisten von uns fühlt sich das so unerträglich an wie ein kalter Drogenentzug. Und das ist es auch, denn unser Lifestyle macht abhängig, süchtig, und Süchte tragen den Keim der Selbstzerstörung in sich. Mein Rat: Geben Sie nicht auf, halten Sie es aus und versuchen Sie es immer wieder. Der Ausstieg ist hart, aber wer Abhängigkeit abschüttelt gewinnt Freiheit. Dafür ein bisschen zu leiden, lohnt sich.


Setzen Sie sich allein und ohne Handy einfach an den Waldrand

 

 

Haben Sie Fragen?

Markus Kellenberger begleitet Menschen auf der Reise ins Innere und beantwortet Ihre Fragen aus den Bereichen Leben, Liebe, Glaube und Spiritualität persönlich und ganzheitlich. m.kellenberger@weberverlag.ch

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