Das Lied der Amsel

Frei und wild. Genau so und erst noch mit geschwellter Brust, singt Herr Amsel kurz vor Sonnenaufgang sein Lied in den Morgen. Der Apfelbaum vor meinem Schlafzimmerfenster ist seine Bühne. Vor dort aus singt und spinnt er Ton für Ton einen feinen Silberfaden bis tief hinein in das Labyrinth meiner Träume. Er singt und spinnt so lange, bis er dort auf meine schlafwandelnde Seele trifft. «Hallo», tiriliert Herr Amsel, «es ist Zeit aufzuwachen».

Druid dhubh nannten die Kelten die Amsel, «schwarzer Druide». Er war der Hüter am Tor zur Anderswelt und der Tierbegleiter, der den Menschen eine sichere Reise in das Traumland hinein und auch wieder hinaus versprach. Singend geleitete er sie bei Sonnenuntergang in den Schlaf, und bei Sonnenaufgang weckte er sie mit einem neuen Lied. Das waren andere Zeiten, und die Rhythmen der Natur bestimmten damals den Alltag der Menschen, und nicht schrillende Wecker und immer gescheiter werdende Maschinen. «Modern Times» von Charlie Chaplin hätte eigentlich genug Warnung sein sollen.

«Komm», lockt Herr Amsel mit einer neuen Strophe, «ein junger Tag will mit dir zusammen älter werden.» Langsam führt mich sein ausgelegter Silberfaden vom Traum- ins Wachland. Es ist ein Wandern zwischen den Welten. Draussen vor dem Fenster schüttelt der Frühling gerade den Winter ganz ab, der Sommer lässt sich fern schon erahnen und der Herbst weiss, wann für ihn die Zeit gekommen ist. Das ist der Rhythmus der Jahreszeiten, und es gibt noch viele Rhythmen mehr, zum Beispiel den der Trommel, den Schamaninnen und Schamanen überall auf der Welt schlagen. Und irgendwie schafft es die Amsel, alle die grossen und kleinen Rhythmen dieser Erde in Musik zu verwandeln.

Musik ist Magie. Sie ist so stark, dass der Zauberer Väinämönen Hexen und Drachen mit seinem Gesang bannen konnte. So jedenfalls steht es in der finnischen Saga «Kalevala» geschrieben, die von mystischen Zeiten erzählt. Im Sumerischen Reich zwischen Euphrat und Tigris wiederum setzte die Trommlerin Lipuschau die Kraft der Musik ein, um Kranke zu heilen und Menschen ins Dies- und ins Jenseits zu begleiten. Das war vor mehr als vier Jahrtausenden. Und die Aborigines nutzen seit Anbeginn der Zeit die Kraft der Lieder, um sich auf ihren spirituellen Wanderungen zu orientieren. Ihre sogenannten «Songlines» sind Routen, die ganz Australien durchziehen. Es sind von Generation an Generation überlieferte Gesänge samt den dazu gehörenden Ritualen und Felsmalereien, die den Weg weisen und gleichzeitig die Geschichte der Ahnenwesen erzählen, die das Land erschufen. Ähnliche Geschichten verbreiteten bei uns früher die Barden und Skalden. Als wandernde und singende Erzähler zogen sie von Ort zu Ort und trugen an den Feuern ihrer Gastfamilien Gedichte über Göttinnen und Götter und die alles bestimmenden Rhythmen der Erde vor, so wie es die Amsel bis heute voller Inbrunst tut. Wir müssen nur zuhören, unser Herz versteht die Botschaft.

Das Ende des Silberfadens, der aus meinem Traum führt, ist erreicht, aber kurz vor dem endgültigen Erwachen frage ich Herrn Amsel: «Was wäre, wenn wir wieder ganz in den Rhythmen der Natur leben würden?» Und noch während ich meine Augen öffne , höre ich den schwarzen Druiden wie ein leiser werdendes Echo singen: «Dann wärt ihr Menschen wie die Amseln. Frei und wild.»

 

Markus Kellenberger ist Autor und Journalist. In der Kolumne «Anderswelt» betrachtet er Alltägliches – nicht nur – aus schamanischer Sicht, und an seinen «Feuerabenden» im Tipi begleitet er Menschen auf der Reise ins Innere. markuskellenberger.ch

Zurück zum Blog