Anderswelt: Von grossen und kleinen Wünschen

Mit einem hölzernen «togg» fiel das kleine Ding direkt vor meinen Füssen auf die frisch gejätete Erde. Eine Haselnuss aus heiterem Himmel. Ich blickte hoch und sah den Raben, der sie hatte fallen lassen, gerade noch übers Hausdach verschwinden. «Danke», rief ich ihm nach und hob das unerwartete Geschenk auf. Es war eine Nuss vom letzten Herbst, die der Vogel irgendwo gefunden hatte.

 

Was wollte mir der Rabe mit dieser Nuss sagen? In der Anderswelt, in der sich Mensch- und Tierwesen als Geister begegnen können, haben mir die schwarzen Vögel schon oft einen guten Rat gegeben. Also setzte ich mich mit der Haselnuss in der Hand ins warme Gras, schloss die Augen und dachte nach. Wie immer in solchen Momenten der kleinen Meditation, stiebten meine Gedanken erst einmal wie eine Schar unbändiger Kinder wild in alle Richtungen davon. Einige wollten mit dem Thema partout nichts zu tun haben, aber eines rief unablässig im Kreis hüpfend «Hexenbaum, Hexenbaum», ein zweites trällerte die Titelmelodie von «Drei Nüsse für Aschenbrödel», und ein drittes sagte nur ein Wort: «Ragusa». Diese drei Gedankenkinder winkte ich zu mir.

«Ja», sagte ich zu ihnen, «die Hasel ist mehr als nur ein Baum.» Schon unsere Jäger- und Sammlervorfahren haben seine Nüsse den Verstorbenen als Wegzehrung für die Seele ins Grab gelegt. Bei den Griechen, Kelten und Germanen wurde die Hasel zum Baum der Erkenntnis, der Poesie und der Erotik. Und die Hagazussa, die Geisterreiterinnen, Heilerinnen und Kräuterweiber, haben aus dem Holz der Hasel Wünschelruten, Zauberstäbe und Amulette geschnitzt, die Krankheiten und böse Geister fernhalten sollten. Ausserdem sind ihre Nüsse Samen, die das Geheimnis des Lebens bewahren – und natürlich können sie geheime Wünsche erfüllen. «Hurra», riefen die Gedankenkinder erwartungsfroh.

«Aber Vorsicht», mahnte ich, «Haselmagie gefällt nicht allen.» Der Glaube an die besonderen Kräfte der Hasel war bei den Menschen früher so stark und weit verbreitet, dass es den Mächtigen Angst machte. So hat zum Beispiel der christliche Merowingerkönig Dagobert im 7. Jahrhundert in seiner Gesetzessammlung Lex Ripuaria jeglichen Haselzauber verbieten lassen. Zum Glück mit mässigem Erfolg, wie die vielen überlieferten Märchen zeigen, in denen Haselbäume und -nüsse eine wichtige Rolle spielen. Das besondere Wesen der Hasel schlug sich jedoch nicht nur in Zaubereien, sondern auch in Weisheiten nieder, wie in diesem altdeutschen Sprichwort: «Gott schenkt uns die Nüsse, aber er knackt sie nicht.» Darin steckt viel Tiefsinn und wohl deshalb hat Johann Wolfgang von Goethe dieses Sprichwort einst einem Freund ins Poesiealbum geschrieben.

Tja, und nun liegt in meiner Hand also diese eine Nuss, geschenkt von einem vorbeifliegenden Raben. Wie in jeder Nuss schlummert auch in ihr ein Wunsch. Die Hoffnung lässt ihn keimen, aber erst der Wille, die Schale zu brechen, lässt ihn auch wirklich wahr werden. «Was machst du jetzt mit der Nuss, welchen Wunsch erfüllst du uns?», wollten meine drei Gedankenkinder wissen. Und im Chor riefen sie «Knack sie auf, knack sie auf!» «Geduld, Geduld», beruhigte ich die drei. «Ich suche keinen Prinzen wie Aschenbrödel, und ich kann auch nicht auf einem Hexenbesen reiten – darum schlage ich vor: Wir kaufen uns ein Ragusa.» Die Kinder jubelten, und ich mit ihnen. Auch die Nüsse mit den kleinen Wünschen sind es immer wieder wert, geknackt zu werden.

 

Markus Kellenberger ist Autor und Journalist. In der Kolumne «Anderswelt» betrachtet er Alltägliches – nicht nur – aus schamanischer Sicht, und an seinen «Feuerabenden» im Tipi begleitet er Menschen auf der Reise ins Innere. markuskellenberger.ch

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