Anderswelt: … das himmlische Kind

N ichts anderes wollte ich, als für Sie, liebe Leserin, lieber Leser, eine wunderbare Winter-Kolumne schreiben. Etwas Tiefsinniges sollte es sein, das zum Nachdenken einlädt und dazu auch noch ein Lächeln ins Gesicht zaubert – mit anderen Worten: eine kleine poetische Geschichte für den Jahresanfang. Soweit mein Vorsatz und deshalb setzte ich mich schon früh am Morgen vor den Bildschirm, die Finger schwebend über der Tastatur in Erwartung der Muse Kuss.

 

Nach einigem Warten und der dritten Tasse Kaffee stopfte ich die Wäsche in die Maschine, bunt bei 30 Grad im Sparprogramm. Vielleicht, so meine leise Hoffnung, hilft mir eine der Musen später beim Aufhängen und lässt sich dabei einen Kuss abringen, aber das entpuppte sich als reines Wunschdenken. Thalia, die Chefin der neun Göttinnen, ist für Musik zuständig; Klio beflügelt die Geschichtswissenschaften; Kalliope inspiriert die Heldendichtung; Terpsichore macht Tänzerinnen und Tänzern Beine; Melpomene suhlt sich in Tragödien; Erato zerfliesst in Liebesdichtungen; Euterpe haucht dem Flötenspiel leben ein; Polyhymnia beseelt die heiligen Gesänge und Urania, die letzte von ihnen, schwebt als himmlische Aphrodite in der Sphäre der Fixsterne. Für profane Hausarbeiten ist keine von ihnen zuständig. Während die Wäsche am Ständer hinter mir langsam trocknet und die geheizte Wohnungsluft befeuchtet, hat es kräftig zu schneien begonnen.  Draussen vor dem Fenster wird alles so weiss wie der Bildschirm, vor dem ich schon lange wieder sitze, nach wie vor ungeküsst. Die alten Griechinnen haben heute offenbar keine Lust darauf, und deshalb sind die Küche und ein paar andere längst anstehende Sachen bald auch gemacht, und beim Gedanken an noch einen Kaffee verknotet sich mein Magen.

Ich schlüpfe in Winterstiefel und eine dicke Jacke, ziehe mir die warme Mütze über die Ohren und Fäustlinge über die Hände und lasse mich vom Wind und den eisigen Flocken in den angebrochenen Nachmittag treiben. Vielleicht hat Frau Holle ja eine zündende Idee, schliesslich ist sie eine Inkarnation von Freya, der grossen Erdgöttin der Vanen, und die wiederum ist unter anderem auch für die Dichtkunst aller Germanenvölker zuständig.

Querfeldein stapfe ich neben einer Fuchsspur durch den Schnee. Von irgendwo da hinten kommend zielt sie schnurgerade übers Feld in Richtung Wald und ich auch. Zwischen den Bäumen, deren Äste schwer von Schnee sind, ist es still wie in meinem Kopf. Und so sehr ich auch alle meine Sinne öffne, den in die Backen beissenden Wind spüre, verzaubert dem Tanz der Flocken zuschaue, über all die braunen Buchenblätter staune, die über den weiss bedeckten Boden wirbeln und mich dabei frage, ob alle Waldwesen einen geschützten Unterstand gefunden haben – Frau Holle schweigt und ist offenbar ebenso wenig bereit, mir eine Inspiration zu schenken wie die Musen einen Kuss. Und deshalb bin ich im Gleichschritt mit dem schwindenden Tageslicht wieder nach Hause gegangen, um den leeren Bildschirm nochmals anzustarren.

Tja, liebe Leserin, lieber Leser, und so muss ich gestehen: Aus meinem Vorsatz, für Sie eine Winter-Kolumne zu schreiben, ist leider nichts geworden. Meine Fäustlinge und die Schaffellmütze habe ich über den knackenden Holzherd gehängt und vor dem Fenster meiner Schreibstube ist es endgültig Nacht geworden. Grad vorhin war mir übrigens, als hörte ich dort draussen im Dunkeln ein paar Frauenstimmen leise kichern – aber vermutlich war das nur der Wind …

 

Markus Kellenberger ist Autor und Journalist. In der Kolumne «Anderswelt» betrachtet er Alltägliches – nicht nur – aus schamanischer Sicht, und an seinen «Feuerabenden» im Tipi begleitet er Menschen auf der Reise ins Innere. markuskellenberger.ch

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